Andreas Louis Seyerlein

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20.32 UTC – Jenes einsame Nadel­blatt­ge­wächs in der Form der Pini­en­bäume unweit der Ponte agli Incura­bili könnte Joseph Brodsky bei Regen noch beschirmen. Von dort soll der Dichter gern über den Kanal nach Giudecca geschaut haben. Ich erwar­tete eine Bank von Stein oder Holz, vergeb­lich. Viel­leicht wird Joseph Brodsky sich zur Beob­ach­tung des Wassers einen Klapp­stuhl mitge­nommen haben oder liess die Beine von der Quai­mauer baumeln, sie werden vermut­lich bald nass geworden sein. Wenn ich nur lange genug nach Westen schaue zu den Hafen­an­lagen hin, kann ich Joseph Brodsky sitzen sehen, wie er sich mit den Wellen des Meeres unter­hält, ihre Bewe­gung erforscht. Und wie sich in diesem Augen­blick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braunrosa­far­bener Elefan­ten­rüssel aus dem Wasser erhebt, wie er bebend die Luft sondiert, wie er sich dem Dichter nähert, als wäre er noch immer dort, Fonda­menta degli Incura­bili. Wie gern würde ich mit Joseph Brodsky gesprochen haben über die Stadt Mariupol. – stop

16.58 UTC – Von der Wasser­bus­sta­tion Reden­tore aus ist heute das Schwes­ter­chen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhn­li­cher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist viel­leicht deshalb so still, wo es doch nicht wirk­lich still sein kann, weil die Luft langsam west­wärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz inne­hält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet viel­leicht von Palanca her oder von den Giar­dini – Zwil­lingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stür­misch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasser­bus­sta­tionen sei weit ins offene Meer hinaus zu hören. Kein Wunder demzu­folge, kein Wunder, dass sie sich aus der Tiefe kommend nähern. – stop

4. Oktober 2018 11:10