Björn Kiehne

Heute Morgen am Fenster

Schön diese Zeit bevor die Stadt aufwacht,
die Sterne verabschieden sich am Himmel,
das Licht legt nicht alles offen,
man sieht noch nicht zu viel.

Auf dem Turm der alten Schule gegenüber,
zieht ein Adler den Kopf aus dem Gefieder,
blickt über die schlafenden Straßen, zögert.

Die Luft riecht nach brennenden Büchern…
Am Rand der Stadt, dort wo die letzten
Häuser sich verlieren, lodert der Wald.

Adler, breite weit deine Flügel aus,
flieg mit mir über die stillen Lande,
bring mich früh genug hier raus.

9. November 2018 07:52










Björn Kiehne

Mondscheinallee

Am Ende der Straße
liegt das Café,
der Abend ruht sich
auf der Markise aus,
ein müder Wind
weht Blätter hinein,
Briefe aus der Vergangenheit.
„Wo wir sind, ist immer Sommer“,
flüsterst du und lächelst;
„Wo wir sind…“, beginne ich
und schweige,
als der Vorhang der Nacht
sich senkt und,
aus dem Faltenwurf
seiner Stille,
der Mond aufsteigt,
mildes Licht über
die Erinnerungen gießt,
über uns, über das Café,
über all die Jahre in
der Mondscheinallee.

Für Connie

23. September 2018 12:58










Björn Kiehne

Treibgut

Im Salzwasser schweben,
Zeilen wie Nabelschnüre,
Dinge, die voreinander fliehen,
mit Tang an einander binden.

Zusammen mit dir und den Wellen
ein Lied anstimmen, verbunden
und genährt, der Sonne zu-
blinzeln wie einer Vertrauten.

Teile unserer gemeinsamen
Erzählung, treiben wir auf
dem Meer, bis die Wörter
nicht mehr zueinanderfinden.

Was geschieht, was lockt den
Sturm in unsere Bucht, was
trennt die Silben, was lässt die
Wellen zu Brechern werden?

Die Wellen sagen: Schwimm!
Streich dir das Alter aus dem
Gesicht, erinnere die Einsamkeit
wie ein vergessenes Lied.

2. Mai 2018 05:30










Björn Kiehne

Ablandiger Wind

Ablandiger Wind
treibt mich aufs
Meer.

Ich schwimme
in die offene See,

hoffe auf das
Archipel der Wörter,
die Blauen Inseln,
in deren Dünen der
Ginster brennt.

Verzeih, ich kann
nie anders, als die
Ufer laufen zu lassen,
dich stehen zu lassen
am Strand.

Ich schwimme
in die offene See.

Ablandiger Wind, Du
entzündest die Dünen,
treibst mich aufs Meer.

1. Dezember 2017 10:04










Björn Kiehne

Die Mittagsblume

Ich weiß, es ist einfacher,
wenn wir uns nicht
gegen die Wellen wehren –

unsere Worte liegen wie
entfernte Inseln im Dunst,
Ponza, Palmorala, Ventotene;

in der Steinmauer öffnet sich
die Mittagsblume, die Vögel
kommen, um zu schweigen,

und mit der leuchtenden
Tinte des Thyrrenischen Meers
schreiben wir uns Zeilen,

die einander lange schon
kennen, wie, weißt du
noch, erinnerst du dich?

Bis Wind aufkommt, der
Geruch von fallendem Regen
durch unser Gespräch zieht,

die Mittagsblume sich um 
diesen Tag schließt, ihn schützt
vor dem kommenden Sturm.

3. Juli 2017 09:59










Björn Kiehne

Touristen und Kamele

Die Stadt als Meer, gelbe
Steinwellen, die von der Wüste
aus aufeinander zu rollen, um 
im Spalt des Nils zu verschwinden.
 
Am Dünenrand die Pyramiden, Trittsteine 
in der Zeit, umschwärmt von Kameltreibern,
Führern, Händlern – die toten Könige
ernähren noch immer ihre Kinder.
 
Eine Touristin lamentiert: Schade, dass
alles so kaputt ist, während sie nervös
versucht, einen räudigen Hund weg-
zustoßen, der an ihrer Tasche schnuppert.
 
Bist du das Cheops? Ein Tier heut, so hungrig 
wie einst deine Sklaven, verdammt dazu,
deine einstige Größe zu bestaunen, ohne
etwas im Magen zu haben?
 
Und während in Kairo, ein Muezzin die 
Tauben aufscheucht, beobachtet Cheops
wie ein Tourist versucht, mit dem falschen
Bein zuerst aufs Kamel zu kommen.
 
Er jault, blickt auf die Stadt, den Fluß,
die Wüste, lässt den Wind durch sein Fell
gehen, und fragt sich:  Wer ist hier dümmer,
die Touristen oder die Kamele?
 
 
                                                El Giza

30. Januar 2017 20:54










Björn Kiehne

Horus

Der Wind kommt aus der Wüste, trägt,
mit dem Staub, auch den Falken ans Meer.
Der teilt mit gerader Linie den Himmel,
sieht unter sich das Relief der Felsen,
die Schrift des Windes auf den Ebenen.

Nach Stunden erscheint der schmale
Streifen Grün, Palmen, Jasminbüsche,
die mühsam am Leben erhalten werden,
dahinter das Rote Meer, das leuchtet, als
wetteifere es mit dem wolkenlosen Himmel.

Jetzt steht der Falke still in der Luft,
ein Zeichen, scheinbar bewegungslos,
blickt er in das blinde Auge des Pools,
betrachtet die Menschen auf den Liegen,
die ihr Fleisch auf beiden Seiten garen.

Ein Kind entdeckt den Vogel, zeigt mit dem
Finger auf ihn, breitet seine Arme aus, als
wolle es fliegen, läuft über das grüne Gras
der Hotelanlage: Ob es weiß, dass er es ist,
der jeden Tag den Morgen aus der Wüste bringt?

Marsa Alam

30. Januar 2017 20:53










Björn Kiehne

Der schlafende König

Morgenlicht liegt auf den Feldern,
Schatten räkeln sich unter den
Palmen wie schwarze Katzen.

Ramses schläft im Staub,
träumt entlang des Nils,
folgt der Tonspur des Wassers,

dahin, wo die Fluten ihm Zeilen
in den Sandstein schreiben, Rätsel
für ihn, Rätsel für den König.

Alles flüstert ihm zu: das Morgenlicht,
die Schatten, alles fragt ihn nach der
Lösung; denk nach König, denk nach.

Memphis

30. Januar 2017 20:51










Björn Kiehne

مصر Miṣr – Drei Versuche über Ägypten
30. Januar 2017 20:50










Björn Kiehne

Blumen

Es gibt Gedichte,
die aus dem Asphalt aufsteigen,
von dort, wo gerade jemand stirbt.

Sie mischen das Abgas
mit den Gedanken derer,
die verschwinden.

Ich lege Blumen
in die Luft,
für alle,

die sterben;
für alle,
die töten

und nicht wissen,
dass sie selbst
ihr erstes Opfer sind.

29. Dezember 2016 05:20