Christian Lorenz Müller

STAHLFARBENE IRIS, TIEF GELOCHTE PUPILLE
(Israel 1994)

Auszug aus einem Zyklus

III

Einmal, im Westjordanland,
verwirrte ich einen Soldaten
mit der Frage nach Obdach, er saß vor einem Zaun
mit schwerer Stacheldrahtkrone,
ich hatte gerade Jerusalem hinter mir,
Golgatha, die Via Dolorosa, die Klagemauer,
diese Krone zerzackte den Abendhimmel,
als der Soldat telefonierte,
bald fuhr ein bärtiger Siedler herbei,
sein Schnellfeuergewehr saß sorgfältig angeschnallt
auf dem Beifahrersitz, er prüfte meinen Pass,
blickte mich an lange an, nickte,
ich rollte durch das Tor, rollte durch Baracken,
durch eine staubige graue Stille,
die vor der Synagoge endete,
dort gab es einen Flecken Gras,
ein künstlich lautes Grün,
auf dem ich schlafen durfte.

Seit fünf Wochen war ich unterwegs,
Italien, Griechenland, Zypern,
kaum dass ich mich irgendwo niederließ,
lachten Kinder rund um mich herum,
fragten nach dem Woher, dem Wohin,
hier waren nur zwei Erwachsene
von sechs und acht Jahren, Brüder
auf deren Kippas ich hinunterblickte
wie auf Spitzendeckchen, man hatte
etwas Heißes auf ihren Köpfen abgestellt,
Minztee vielleicht, der ihre Zungen,
mit heiligem Ernst verbrühte,
als sie, die Rechte auf den Herzen,
mit der Linken gen Westen zeigen,
Jeruschalajim, Jeruschalajim, und ihre Augen
quarzten hart, vier Kiesel, aufgelesen
von Abrahams uraltem Grund.

Der Grasfleck endete an einer Kante,
geländerlos stürzte der Abend ins Dunkle,
hinunter in ein tief zerschluchtetes Land,
erste Lichter blinzelten herauf,
this is Jericho, sagten die Soldaten,
die neben der Synagoge saßen,
fuck it‘s autonomy, später legten sie Fleisch
auf einen Grill, der ein Bein zu wenig hatte,
sie klemmten eine Uzi unter Blech und lachten
über den heißen Lauf, luden mich ein,
fuck Jericho, fuck sitting here, sie hatten mein Alter,
verwünschten den Wehrdienst, we want to travel,
to travel like you
, wir aßen, wir tranken,
dann rollte ich meinen Schlafsack ins Gras,
Einschusslöcher glänzten anstelle der Sterne.

6. Dezember 2023 10:10










Christian Lorenz Müller

4000 MAUSOLEEN
(Wladimir Wladimirowitsch erzählt seinem
Generalstabschef von einem Traum)

Ich war Postbote in Burjatien, Waleri Wassiljewitsch,
ich steckte in blauer Uniform,
hatte eine Tasche voller Briefe,
auf jedem Umschlag der russische Adler in Gold,
er erhob sich immer dann vom Papier,
wenn ich ein Schriftstück übergeben wollte,
flog Schatten über die Gesichter
der Mütter, Väter, Ehefrauen,
flog Finsternis über die Isbas der Dörfer,
die Chrustschowkas in Ulan-Ude, Waleri Wassiljewitsch,
als ich dort an Lenins Kopf vorbeikam
befand ich mich plötzlich wieder in Moskau,
ich wollte über den Roten Platz zurück in den Kreml,
aber sein weites Pflaster gab es nicht mehr,
es gab 4000 Mausoleen grünlicher Verwesung,
allein 4000 sollen vor Awdjejewka geblieben sein,
stimmt das, Waleri Wassiljewitsch,
4000 Leichen lagen im gläsernen Gestank
meines Traums, und vor jedem Mausoleum standen
die Mütter, Väter, Brüder Schlange,
und Flügelfinsterns fiel auf die Stadt,
denn die Adler kreisten ohne Zahl.

(Den zentralen Platz von Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen
Teilrepublik Burjatien, ziert ein 42 Tonnen schwerer Lenin-Kopf.)

28. November 2023 12:12










Christian Lorenz Müller

DER BORRETSCH BLAUT KEINE ANTWORT

Langgestreckt auf den Hügel gegiebeltes Haus,
sägerau sparrt sich das Dach gen Himmel,
Raumhöhe, wo früher der Heuboden war,
wo blankzinkige Gabeln
die duftende Ernte des Sommers bewachten,
kubikmeterweise Fischluft
anstelle der knarzigen Enge der Gesindekammern,
frisch geputztes Panoramaglas,
wo einst die dumpfe, kleinfenstrige Dämmernis
der Stube sich befand,
wir können nicht zurück, wir haben die Stalltüren,
durch die die Schwalben zuckten,
durch Garagentore ersetzt, brauchen wir denn
eine neue Romantik, ein neues Waldhornirren
am Rand des Penzberger Gewerbegebiets,
ist denn die Entität des Loisachflusses eine juristische Person,
angetan mit einer Dirndlschürze aus Wasser,
das über ein Wehr stürzt,
wir haben die Fragen, der Borretsch
im Nantesbucher Garten blaut keine Antwort,
die tausendsternigen Astern wissen nichts
vom leeren, kalten Firmament,
von notorisch verdächtigen Wörtern
wie Schönheit und Liebe
,
vielleicht genügt es, wenn sich der Rationalismus
für ein Stündchen in die Herbstsonne lehnt
und mit gesunder Gesichtsfarbe,
doch ohne tiefe Indigenenbräune
zurückkehrt an den Verhandlungstisch.

 

Im oberbayerischen Nantesbuch fand Anfang Oktober ein
Symposium zum Thema „Quo vadis Nature Writing?“ statt,
ausgerichtet von der Stiftung Kunst und Natur sowie
dem Literaturhaus München.  

24. Oktober 2023 08:25










Christian Lorenz Müller

EIN SOLASTALGISCHER REIGEN (Auszug)

Die alte Esche der Kindheit
wurzelte tief in der Unendlichkeit der großen Ferien,
ihr gefiederter Schatten
saß auf meiner Schulter, wenn ich selbstvergessen
in meiner Baumschule stand,
in einem fernen Kanada
aus Ahornen, ich hatte auch Eichen,
hatte Buchen, nur Eschen zog ich nie,
sie trieben überall entlang der Gehsteigkante,
zogen sich zäh aus Schotter und Schutt,
wuchsen mir in zwei, drei Jahren
spielend über den Kopf,
steilten stets hinauf zur Sonne,
wo andere Bäume sich breiteten,
aus Esche schnitzte ich mir meine Speere,
aus Esche war der Bogen, mit dem ich
einen Schwarzbären erlegte,
der eigentlich eine Mülltonne war,
ich wusste, dass die Wurzel
eines Eschenschösslings
so lang ist wie sein Stamm,
dass die Esche das Obere im Unteren spiegelt,
dass die Wurzeln Geheimnisse
von der Erde erwerben, die Zweige von der Luft,
ich wurde groß unter Yggdrasil,
all meine Erinnerungen sind vom
Falschen Weißen Stängelbecherchen befallen,
all die elastischen Triebe glücklicher Tage
stehen laublos und starr, die Wurzel
meines Maßbaums ist infiziert, Nekrosen
fressen sich bis ins Kernholz
einer längst vergangenen Zeit.

2. Oktober 2023 17:21










Christian Lorenz Müller

MAUERSEGLER

Schwärzere Sicheln, schneiden sie Mückenähren
unter abendlichem Gewittergewölk.

Wie bäurisch du noch immer denkst,
wo doch allein die Luft
ihre Scholle ist, als Scheune
haben sie nur ihren Magen, und doch
brüten sie jedes Jahr
auf dem gleichen Mauervorsprung,
jedes Jahr nehmen sie die halbe Welt
unter die Flügel,
ziehen tausende von Kilometern
für zwanzig Quadratzentimeter
Gestein, Ziegel, Beton.

Schwärzere Sicheln, schärfen sie sich
mit ihrem Schrei, fahren durch den
Gewitterhimmel, der ihrer Leichtigkeit grollt,
dem ferneren Blau, durch das sie bald schon
schneiden werden.

30. August 2023 09:13










Christian Lorenz Müller

ODE AN EIN RAUPENNEST

Aus webigem Weiß krochen wir aufs Brennnesselblatt,
nun raupen wir zahllos zwischen den Stängeln,
wir verzehren uns nach dem Augenblick,
in dem wir, zu Puppen geworden,
uns wandeln, uns aus breiiger Masse
in einen Falter verzaubern,
rot und leicht,
und, mit unserem Flügelmuster himmelwärts äugend,
uns erheben über die erdschwere Welt.

15. Mai 2023 09:56










Christian Lorenz Müller

BIS ALLES GRÜN WIRD

In der Luft blüht der
Schnee, an der Straßenecke
die Forsythie.

Ihr Aufgelben im
Wintergrau. Sie erst sonnt den
Knospensprung herbei.

Mittleres Ampel-
licht. Und mein Innehalten
bis alles grün wird.

5. April 2023 09:22










Christian Lorenz Müller

ZILOKOWSKI-STRASSE – ECKE FRIEDENSSTRASSE

Die Tage trümmern                  der Himmel hat die ganze
Zeit Tobsucht                 dieser Schutt
macht mich krank diese Ruinen zerkanten
wir sollen es sagen, wenn unser Blick sich entzündet,
wir sagen es nicht, man hat uns vorgeschoben,
Ecke Wulyzja Zilokowiskogo – Wulyzja Myru,
sie werden bestimmt über die Friedensstraße kommen,
ab mit euch, ach, ich liebe den Humor
meines Kommandanten, ich hasse ihn,
ein paar Pappeln in der Zilokowskogo stehen noch,
da hat der Hausmeister seine abgekehrten Besen
mit dem Stiel in die Erde gesteckt und ist gegangen,
hat keine Lust mehr, verstehe ich,
hat keinen              das war nah sehr nah immer wenn das Besteck
in der Küchenschublade hinter uns             aufklirrt
ist es sehr nah                ist es mir, als wäre es
schon vorbei, als kauerte nur noch meine Seele
auf der verstaubten Isomatte, als blickte sie
verwundert hinüber zu dem tarnfleckigen Etwas, das der
Luftdruck                  zu der Küchenzeile
die Leute, die hier gewohnt haben, sind nicht arm gewesen,
der Kühlschrank ein weißer Sarg, die anderen
werden mich reinlegen und raustragen                 komisch
diese Krähe, die gestern ganz allein
in einem der Hausmeisterbesen saß, sonst schnäbeln hier
doch bloß die Splitterbomben scharf im Wind
diese                     Vögel fliegen immer im

7. März 2023 09:12










Christian Lorenz Müller

ER FRAGT NIE NACH SEINEM BOOT

Vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, er sagte nichts,
als ich ihm, das Mobilnyk noch in der Hand,
von Mutter und Zoja erzählte,
die in Charkiv im Keller saßen,
in Sicherheit, das konnte nur bedeuten,
dass draußen die Bomben fielen,
das Telefon ertaubte in meiner Hand,
als er schwieg, ins Wohnzimmer wechselte,
um den Fernseher einzuschalten,
er setzte sich auf die ausgezogene Couch,
zwischen unsere aufgewühlten Decken,
das quallig gewordene Gesicht seines Präsidenten
schwamm hinter dem Bildschirm vorbei,
giftig umklammerte der Tentakel
seiner Hand eine Tischkante,
Mutter und Zoja flohen noch am selben Tag
nach Ridnyj Kraj, auf die Datscha,
dort liegt das Boot,
das mein Mann gebaut hat, stundenlang
war er sommers draußen auf dem See,
er angelte Stille,
sie schimmerte in einem Eimer
den er abends in die Küche stellte,
Mutter freute sich immer, briet sie im August
zusammen mit Birkenpilzen,
vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, seit einem Jahr
hat mein Mann sich selbst am Haken,
ködert sein Schweigen aus den Tiefen
des Fernsehers, fragt nie nach Zoja,
nach Mutter, nach seinem Boot
und seinem See in Ridnyj Kraj.

24. Februar 2023 08:30










Christian Lorenz Müller

INSELPOST

Unseren Postkasten haben wir abmontiert,
denn der Wind ist hier sehr stark, er verwandelte
alle eingeworfenen Briefe in Möwen,
sie flatterten aus dem Schlitz
und schrien in vier oder fünf Sprachen
frech um unser Haus,
wenn wir nicht aufpassten,
stürzten sie sich durchs offene Fenster,
scheuchten die graue Zeitung
zu einem jungen Albatros, und das Blatt
mit einem angefangenen Gedicht
wurde zu einer Sturmseeschwalbe,
die hinaus auf den Atlantik flog,
selbst die dicksten Bücher
schlugen mit ihren Seiten,
sie flatterten aufgeregt von ihren Stellagen
wie unsere Hühner von der Stange,
wenn nachts der Fuchs kommt,
wir haben unseren Postkasten abmontiert
und stellen stattdessen das Auto
in Finnphort an den Rand der Straße,
wir öffnen das Seitenfenster einen Schlitz weit,
der Briefträger kennt unsere Adresse,
algengrüner Vauxhall Astra Mk.3
mit einer Windschutzscheibe in Taucherbrillenform,
wir setzen uns auf die eingeworfenen Briefe,
auf weiche Daunen, sie polstern uns
den Weg nach Knockvologan.

Miek Zwamborn und Rutger Emmelkamp zugedacht

7. Februar 2023 10:00