Christian Lorenz Müller

BASAR

Vier Jahre lang
war ein Leben immerhin
eine Handgranate wert,
eine Fassbombe oder zumindest
ein paar Kugeln, nun kostet es
nicht mehr als den Griff
nach einem Brocken Beton,
nach einer Baustahlstange.

Ein preisgegebenes Versteck
verringert die Summe der Schläge
mit dem Elektrokabel.
Drei verheimlichte Namen
haben den Gegenwert
von drei ausgerissenen Fingernägeln.
Wer nach Gerechtigkeit verlangt
bezahlt mit seiner Zunge.

Dann ist Schweigen, ist Stille
auf dem Basar.

15. Dezember 2016 12:05










Christian Lorenz Müller

DEHYDRIERT ZU KILOBYTES

Am Ende bleibt jedes Gedicht
für sich allein.
Vor dieser Erkenntnis
steht seine Sehnsucht
nach einer Seitenzahl,
die Sehnsucht nach einer Bindung
an achtzig, neunzig Andere.
Die Sehnsucht, einmal Augen
auf sich zu spüren, einen Blick
der nicht nur kurz verweilt.
Nicht wenige Gedichte
senken dann die Lider,
verziehen das Gesicht
oder schauen böse drein,
und doch verzehren sie sich
nach diesem Blick, verzehren sich
und ahnen schon den Spott voraus
und die Häme, oder, schlimmer noch,
das Schulterzucken oder laues Lob
oder hündische Loyalität
und peinliche Bewunderung.

Ja, ein Gedicht bleibt am Ende
immer für sich allein.
Es vereinsamt zwischen den Seiten
oder es dehydriert
in einem elektronischen Archiv
zu ein paar Kilobytes.

So wie dieses hier.

13. Dezember 2016 11:51










Christian Lorenz Müller

GREAT AGAIN

Immer das bläuliche Schimmern
der Bildschirme, die Bytes
zucken unterm Glas wie Forellen
und wir, über unsere eigenen Einträge,
Tweets, Kommentare gebeugt,
fallen nicht. Wir versinken nur
in dem Buchstaben gewordenen Bild
unserer gerechten Empörung.

Unsere Finger huschen,
Wasserläufer auf Flüssigkristall,
über unsere gegoogelten Gesichter,
unsere Biographien, Preise, Buchtitel,
über den Wikipedia-Eintrag,
der aus digitalen Tiefen auftaucht,
leuchtender Krill in der Finsternis,
und wir lächeln uns an,
irgendwo auf einer Kreuzung,
auf einem Bahnhof, eine armselige
Pfütze in der Hand.

11. November 2016 09:57










Christian Lorenz Müller

WENN DIE SCHATTEN

Wo die Straße endet
rupfen Schafe die Schatten.
Unzählige Nächte
haben das Holz der Höfe
schwarz gewittert.
In der öligen Dämmernis
eines Schuppens stehen Traktoren,
das dunkle Rund eines Reifens,
und dann geht ganz in der Nähe
eine Kreissäge auf,
ihr kaltes Grellen
blendet das Ohr.
Tausende von Umdrehungen
pro Minute und der Bauer,
der, ungeschnittenes Holz in Händen,
unablässig um sie kreist.

Noch immer existieren
die Gravitationskräfte der Kindheit,
immer wieder dieses Verharren
im Herbst, wenn die Wege enden,
wenn die Schatten vor die Mäuler
der Schafe fallen.

6. November 2016 11:47










Christian Lorenz Müller

ZEHN APHORISMEN ZUR BUCHMESSE

Kein Bücher-Jahrmarkt ohne Stilgaukler.

Sein erstes Werk war ein Roman, gewaltig wie ein Gebirge.
Gleich nach dessen Erscheinen begannen die Mühen der
Ebene.

Glasklare Prosa muss nicht notwendigerweise
durchsichtig sein.

Die Produktion von heißer Luft kann durchaus
zu Höhenflügen führen. Es braucht nur jemanden,
der die passende Ballonhülle dafür bereitstellt.

Gegen gelegentliches Waten im seichten Wasser der
Unterhaltung ist nichts einzuwenden. Bedenklich wird
es bei Schwimmversuchen oder Sprüngen vom Rand.

Im medialen Zirkus gibt es Artistinnen, Dompteure,
Messerwerfer und Clowns, aber eine Direktorin oder
einen Direktor sucht man vergebens.

Selbst über ungelegte Eier, die aus Legebatterien kommen
werden, redet man viel und gerne.

Wenn Stil die Physiognomie des Geistes ist, warum
erschrecken wir dann nicht vor der allgemeinen
Fratzenschneiderei?

Das helle Strahlen seines Geistes blendete all jene, die
keine Sonnenbrillen in der Tasche hatten.

Wer sich ständig wiederholt, der hat gute Chancen, gehört zu werden.

17. Oktober 2016 09:09










Christian Lorenz Müller

HASSAN AL-ALMANI PREDIGT

Dies Tuch, O Schwestern,
wimpelt schön im Wind:
Signal für eure Zucht.
Wer Schwarzes, wer Brünettes flaggt
reizt mit seinem Stolz.
Holt eure roten, eure blonden
Fahnen ein, versteht:
Blicke sind wie Wind,
sie rupfen, zerren, reißen,
sind unbezähmbar wild.

Nur am Wimpel
ist ein zahmes Zupfen,
der Wimpel ist es
der die Richtung zeigt.

21. September 2016 10:57










Christian Lorenz Müller

BURKA

Dieses komplett verhüllte Gedicht
gestattet allein einen Blick auf die Form,
auf das Alliterationsgitter
vor seinem Antlitz. Ob die Sprache
grob oder fein gewebt ist,
lässt sich auf diese Entfernung
nicht wirklich erkennen.

Dieses Gedicht huscht nur kurz vorbei,
es lässt sich bloß vermuten
ob es drunter enge Hotpants
oder romantische Spitze trägt,
und vielleicht ist es ja auch keine Frau,
vielleicht gehört es ja verboten
weil es möglicherweise sehr bald schon
eine Bombe hochgehen lässt,
die den ganzen Betrieb erschüttert.

15. September 2016 09:23










Christian Lorenz Müller

DAS GELÄUT DER VERZINKTEN EIMER

In der Nähe von Abakan in Südsibirien leben viertausend Menschen mitten in der Taiga.
Als Anhänger eines ehemaligen Ikonenmalers, der sich als Reinkarnation Jesu Christi sieht, sind sie dazu angehalten, ein möglichst autarkes Gemeinschaftsleben zu führen.

I

Das Haus: Vier zum Rechteck gefügte Flöße.
Durch die Fenster wogt der Wald herein
wie durch Lecks.
Winters gischtet der Schnee durch den Garten,
der Rauch aus dem Schornstein
lotet den Himmel aus.

Und immer inselt der Glaube.

II

Täglich hinunter zum Fluss,
das Geläut der verzinkten Eimer
in den Fäusten, und jetzt, im Sommer
die Sonne als Klöppel.
Die Eimer glucksen, ihr Schwanken
an den ausgestreckten Armen
als es das steile Ufer hinaufgeht:
Der Mensch als ein Turm
an dem die Glocken hängen
die ihn zu sich rufen
oder auch nur zu dem Vordach
unter dem der Waschzuber steht.

Vielleicht verklingt die Klarheit
schon beim Gebrauch der Kernseife,
verklingt, wenn der Rücken schmerzt
und die Hände brennen.

III

Jeden Morgen, wenn du anspannst:
Dieses Zaumzeug der Autarkie,
diese Fahrt in die Freiheit
auf einem Wagen
der durch Schlaglöcher bockt.

Deine Lichtung in der dunklen Taiga,
das Heu, das so duftig-leicht auf der Wiese liegt,
das so drückend schwer wird
wenn es sich auf deiner Gabel bauscht.

Abends kein Trab mehr, Schritt
und unter dem Hintern
federt das Heu eine Müdigkeit herbei
die dich einnicken lässt.

Du weißt, wovon du träumst.

IV

Sonntags blendet das heiße Wasser
der Banja deine Haut.
Eine halbe Stunde lang
bist du blind für das Gemüse, das geerntet,
den Schuppen, der gebaut werden muss.
Die Seife erhellt deine Glieder
und dunkel verrinnt mit dem Schweiß, dem Staub
auch die Angst zwischen den Dielen.

Dein Erlöser ist aus rostigem Blech,
er verlangt nur ein paar Scheiter,
und du sagst, dass du danach
immer hinunter zum Fluss gehst, auch winters,
wenn dich der Dampf gen Himmel entrückt
und dein Haar zu Reif wird.
Du sagst, dass du trotzdem niemals zögerst
wenn du am Ufer stehst,
dass du es fast schon genießt
wenn die Kälte dich umkrampft.

7. September 2016 10:27










Christian Lorenz Müller

PAUSCHALES BLAU

I

Die Sandsichel schneidet unermüdlich
Garben aus Schaum,
alle andere Arbeit ruht. Die Zukunft
verläuft sich zwischen Tamarisken,
zwischen Schilf. Fernblaue Gebirge
überm wogenden Wasserfeld
und mühlradrunde Steine
auf dem Strand.

Eine volle Scheuer,
steht unser Zelt.

II

Schwemmholz: vom Wasser
weiß gebeizte Knochen.
Ich apportiere drei Handvoll vom Strand.
Bald schon nagt sie unser Feuer schwarz,
das Schwänzeln des Rauchs
rund um den Kochtopf.

Eine angetriebene Schnur
liegt als vergessene Leine im Sand.

III

Wenn am späten Nachmittag
die Glitzerschollen
sich zu Silbereis verdichten,
wenn das Speedboat
zu einem gleitenden Schlittschuh wird
und das Inselchen für Minuten
eisbergblau der Kimm entgegentreibt,
wenn das Sonnensegel
sich nur noch mit brisigem Licht füllt
und du dich voll Erstaunen fragst
wohin die Stunden verschwunden sind,
wenn du für die fernen Berge
keinen anderen Vergleich gefunden hast
als den von durchsichtigen Gletscherzungen
die ihre Farben im Dunst verkalben,
dann wird es Abend.

9. Juni 2016 10:22










Christian Lorenz Müller

SO ÄUGT NUR EINER (Löwenzahn in Haiku)

So optimistisch
äugt nur einer aus Ecken
voll Unrat und Schutt.

Und seine Blätter
sägen sich durch den Asphalt,
schlitzen das Pflaster.

Gelbgrelles Glotzen
wohin man auch geht. Stickstoff-
vergessenes Grün.

Wieder überrascht
er im Salat: Trotz allem
so viel Bitterkeit.

Und ganz am Ende
pusten ihm die Kinder eins,
der Wind fasst den Flaum.

Die Samen sinken
auf den Asphalt, in Ecken
voll Unrat und Schutt.

17. Mai 2016 08:34