Christine Kappe

Lasst die Schüler erzählen

„… ahhh…
…mich nervts nur
Doch, glaub mir
Das ist im Ganztag passiert

Aber ich habe mich nicht geprügelt
Das waren andere
Und dann kamen 2 dazu
Und dann noch 2
Irgendwann prügeln sich 10 Kinder
Das haben wir oft dort
Das sieht keiner –
Hier muss man treffen (steht auf, fasst sich in die Mitte seines Körpers)
Dann ist man tot
Bei uns gibt es einen Prinzen
Der will alle Menschen töten, alle
Weißt du, der ist der Sohn vom König
Aber den will keiner
Bei uns machst du eine Tür auf … darf ich?
(er klappt eine Tafelhälfte auf)
Und dann machst du noch eine Tür auf
(klappt die zweite Hälfte auf)
Und überall wird geschossen.
Der Prinz…
… ich mal den mal eben…
Hat eine Pistole
Und unter seinem Hut noch eine Pistole
Er ist soooo groß.“
„Da fehlt noch was.“
Sein Mitschüler steht auf, geht zur Tafel
Nimmt sich auch eine Kreide
Und malt dem Prinzen einen Bart
Der immer länger wird
Immer länger, und dann nimmt er den Schwamm und wischt alles weg

Die Stunde ist seit 10 Minuten vorbei und wir sind alle drei völlig fertig
Wir gehen durch die dreckigen Flure, die nicht gut riechen und in denen Schuhe
Umherfliegen und vereinzelt Kinder sitzen
Differenziert arbeitend oder heulend
(irgendwo lag wieder Katzenstreu, weil sich jemand übergeben hatte)
Und wir denken über der Rettung der Welt nach. Und…
Es fühlt sich für einen Moment so an, als könnten wir es schaffen
Nur wir drei

2. November 2019 18:04










Christine Kappe

Zum Glück gibt es noch Vogelhändler

Heute – wir kauften Mäuseheu – erzählte er wieder Geschichten
Über zu dreckige Vogelkäfige
Deren Annahme zur Pflege er verweigerte
Und über das Verbot Tauben zu füttern
Über das er sich genauso hinwegsetzt wie wir
„Das sind doch Geschöpfe wie wir auch
Die muss man mit Würde behandeln
Die Menschen sind nur neidisch, weil sie selbst nicht fliegen können
Aber ich kenne keinen Neid.“
Habe so mit ihm übereingestimmt!
Man freut sich doch aneinander
Er erzählte, wie er als Kind schon Tauben liebte
Weil sie so elegant auffliegen im Schwarm
Dann zeigte er uns ein Kanarienvogelnest mit 3 kleinen, bunten Eiern
Sah fast unwirklich aus, wahrscheinlich weil wir soetwas noch nie gesehen hatten

(work in progress: „Vögel und Städte“)

3. Oktober 2019 01:47










Christine Kappe

Sieh es mal so

Wir sind Wirsing – Wirsing ist Liebe
Wir sind für alle da
Wir-singen-Liebe
Wir sind die Buchstaben dort auf der Wand
Wir sind der Briefkasten:
Der Brief ist die Liebe
Wir sind nur Buchstaben
Die leuchten, wir schlafen
Wir grünen, die schwärzen
Wir wünschen, sie wechseln und wenden
Wir fühlen – sie enden

23. September 2019 07:22










Christine Kappe

Licht
ist ein Pfeil
im Nebel der Erkenntnis
plötzliche Sortierung meinerseits
damit einhergehender Sprachverlust
Verbindung deinerseits
„Ich kenne das noch…“
das ist dein Gebiet:
Hinauszögerung des Todes
so gelingt es mir
(noch) prosaischer zu sein als du
einzige Hilfe:
mäßige Bewegung mit nicht zu vielen Eindrücken
treffe die Hausmeistertochter
die eine Frau ist & eine Fahne hat
die Kinder graben das Haus aus

7. September 2019 21:55










Christine Kappe

Der Niedergang des Offlinehandels

Michael hatte einen Laden in MD. Es war mal ein Kopieladen. Aber, als ich hineinging, gab es keine Kopierer, nur alles andere stand noch herum, erinnerte aber mehr an eine Wohnzimmereinrichung. „Hallo, ich wollte eigentlich was kopieren.“ „Siehst du hier einen Kopierer?“ „Nein, aber… hattest du nicht mal welche?“ „Ja, aber ich fand das blöd. Die Bedeutung des Kopierens wird völlig überschätzt. Außerdem machen sie ungesunde Luft. Ich wollte nicht krank werden.“ „Das verstehe ich. Die Luft ist jetzt viel besser.“ Ich schaute mich um. „Aber wozu ist dieser Laden jetzt da?“ „Warum muss ein Laden denn immer zu etwas da sein. Ich mag das nicht. Ich möchte, dass die Leute einfach so kommen. Das ist doch viel schöner.“ Er umarmte mich. Das war ganz angenehm. Aber ich musste weiter, ich brauchte ja noch die Kopien. Außerdem brauchte ich eine Regenjacke.

„Weißt du, wo man gute Regenjacken kaufen kann?“, fragte ich Michael. „Gegenüber hat doch Maik seinen Laden. Der will den zwar aufgeben, weil alle nur noch per Internet bestellen, aber seine Restbestände verkauft er noch. – Warte, ich komm mit.“ Er schloss den Laden ab und wir gingen zusammen. Maik hatte ebenfalls einen dunklen, etwas verwahrlosten Verkaufsraum. Es stellte sich raus, dass er nur gebrauchte Kleidung verkaufte. Aber dafür teure Marken, er zeigte mir ein paar Jacken. Die Farben gefielen mir aber nicht, orange, gelb, rot, irgendwelche Brauntöne, nur ein Mantel, der war sehr lang, enggeschnitten, durchsichtig, die Kapuze in Blumenform, aber die konnte ich ja abmachen, „Ja, ich glaube, den nehme ich. Schaut mal.“ Doch die beiden Männer waren hinterm dunklen Tresen in ein Gespräch vertieft, es war so eine Atmosphäre wie beim Frühschoppen, dabei war es schon Nachmittag.

19. August 2019 22:02










Christine Kappe

Eigentlich sind es Felsentauben

Ein Mann bestellt eine Donauwelle, mit junger Stimme
eigentlich ist er alt
Draußen mischen sich die Krähen mit den Tauben
eigentlich sind es Felsentauben
Eine japanische Radfahrerin bestellt für ihre Tochter einen Bienenstich
und kann das Wort nicht aussprechen
Eigentlich müsste sie einen Helm tragen
Eine dicke Alte setzt sich draußen auf die Bank und wippt mit dem Oberkörper
Eigentlich müsste sie zahlen
Eigentlich hat die Verkäuferin schon frei
Jetzt bedient sie noch, in Jacke –
Wie das Wetter plötzlich schlecht wird und der Bagger wegfährt
Wie der neue Verkäufer sich bemüht
„Haben Sie 15 Cent? Wenn Sie nur 5 oder 1o haben – auch gut.“
Dann räumt er den Getränkeautomaten ein
Lauter Coladosen. Wer trinkt die alle?
Die türkischen Männer? Sie gehen vorbei
sehen ernst aus, streichen sich die vorhandenen und nichtvorhandenen Bärte
Zwischen vorhandenen und nichtvorhandenen Krähen
Eine hat tatsächlich den Winter überlebt
Obwohl die TiHo prophezeite
Sie würde nie in einem Baum sitzen oder irgendetwas greifen können
Eigentlich wollten wir sie in einen Karton tun und hinbringen
Aber wir schafften es nicht

(work in progress: „Vögel und Städte“)

27. Juni 2019 07:29










Christine Kappe

Stadt Strand Petersburg

Gegen Abend würden die letzten Wolken über dem Meer verschwinden und einen anderen Kontinent sichtbar werden lassen. Was hier angespült wird  – die letzten Dinge. Auf jeden Fall eine Krankheit – die Sommersprossen  auf den Wellen. Nichtzerplatzende Blasen, zögerndes Geschäum. Mal  hierhin fallend – mal dahin, hinüber. Fäden einer geheimen, sich  unaufhörlich selbst schreibenden Schrift. Der Müll? Verändert  szenenartig seine Lage. Ist Statist. Tanz der Hüllen am Strand. Tanz auch von etwas Unbestimmbarem, was die Möven ausgepickt haben, Schalenleben. Der Übergang zwischen Luft und Wasser bleibt Geschichte  des Meeres. »Über austrocknende und nichtaustrocknende Pfützen.« Dazwischen ein rostiger Wasserhahn, aus dem der Wind sich einen dünnen  Strahl zieht.

12. Juni 2019 14:00










Christine Kappe

Regenschirm, Taschenlampe, Taschenmesser
Landkarte nicht vergessen
An der Trampe wartet schon
die Dunkelheit auf mich
Gleich das erste Auto hält
Zwei junge Typen, kaum älter als ich
Sie fahren wie die Henker
Und nur bis zum nächsten Dorf
Aber dann habe ich schonmal ein Stück geschafft
Hätten wir bloß nicht meine Cousine überholt
Sie wird mich verpetzen
Aber erst nach der Tagesschau

(work in progress: Kindheitsgedichte)

6. Juni 2019 09:25










Christine Kappe

Sogno

Er will nach Deutschland, sagt er
„Bayrische Motorenwerke!“
zeigt uns einen Prospekt mit Motorrädern
die sich bei uns kaum jemand leisten kann
„Sogno?“
„Realta!“, beteuert er
Sein Chef beschimpft ihn und treibt ihn zur Arbeit an
Er aber schleicht sich immer wieder zurück an unseren Tisch

Nicht der Wind rüttelt am Fenster, sondern der Verkehr
Vorm Petersdom überfährt eine goldene Lok einen kriechenden Soldaten
Ein Hund bellt irgendwo
In den Geschäften stehen statt Kunden nur Angehöre herum
Ein Mädchen mit Gummistiefeln und kurzem Rock zum Beispiel
läuft an uns vorbei in die dunkle Gasse
Ein Mann mit Pistole
gibt uns zu verstehen, dass hier gleich geschossen wird
Und du
mit hochgekrempelten, weißen Hemdsärmeln
verschwindest koffertragend im labyrinthischen Gangsystem des düsteren Hotels und schaust dich nicht um

25. April 2019 09:11










Christine Kappe

philosophiert

Auf dem Weg zur Arbeit
im Dunkeln
philosophiert
Warum sterben wir

Wenn wir nicht stürben
wäre an uns doch irgendsoeine Art Leine
die uns mit ewigem Leben versorgt
Und die würde beim Radfahren stören

17. Januar 2019 21:15