Gerald Koll

Kühle

Für Frau Wittenborn hat der Sommer begonnen. Frau Wittenborn, der Name unverändert, Suche unter google zwecklos, denn Frau Wittenborn ist nicht bei facebook oder twitter, auch einen Computer hat sie nicht und auch kein tragbares Telefon, Frau Wittenborn steigt vormittags die Treppen des Hinterhauses herab, 93 Jahre ist sie alt und schlecht zu Fuß, Frau Wittenborn aus dem dritten Stock steigt vier Treppen herab, denn der Sommer ist sehr heiß, und die Lunge schnappt nach Luft, Frau Wittenborn sitzt dieser Tage, um die Hitze durchzustehen und den Abend abzuwarten, tagelang auf einem Stuhl allein im kühlen Kohlenkeller.

31. Mai 2011 10:21










Gerald Koll

krogstad

gestern mittag steht der ulf vor mir in der postfiliale, strombergs bzw. tanjas ulf, oliver wnuk, und ich verwand das recht gut, denn er wohnt ja hier irgendwo, geht auch mal zum bäcker und muss eben auch schlange stehen wie alle, die die post besuchen. ging dann abends ins theater, sah einen schauspieler auf der bühne und verwand das sehr viel weniger, erlitt einen schleichenden schock, eine heiße einströmung, als würde das blut fortwährend ausgetauscht. dieser schauspieler trug kalk im gesicht, strähnendrähte staken aus dem kopf, ein schütteres, krächzendes gespenst, bis zur unkenntlichkeit verwesend, doch wie bei toten behauptet sich die nase, daran war er zu erkennen. es war einer, mit dem ich zusammen gearbeitet habe, so lange her, als lägen schichten aus gestein zwischen uns. kein archäologe würde uns dem gleichen erdzeitalter zurechnen. und sah ihn doch mit zärtlichkeit und andacht.

17. Mai 2011 09:02










Gerald Koll

mitternacht

immer öfter schaltet sich um mitternacht in meinem kopf das licht aus, und ich weiß nicht, was zu tun sei. manchmal schaffe ich es noch und wälze mich zur uhr und denke: wieder punkt zwölf.

12. Mai 2011 14:31










Gerald Koll

wollust

ein schlechter frühling ist das, morgens die mottenfalle zu inspizieren und kein männchen dort zu finden, denn sie knuspern nebenan die wolle und schlagen sich die bäuche voll, worauf ich erzürnt zur mottenfalle greife und die motten mit der klebeseite schlage. jetzt trägt die mottenfalle einen schleier wolle zum schutz der motten.

11. Mai 2011 08:48










Gerald Koll

Lieber Hu Jintao,

es war keine gute Idee, einen Repräsentanten der Gedankenfreiheit einzusperren. Es schadet der chinesischen Wirtschaft. Sie haben sich geirrt.

In Deutschland irren wir uns auch dauernd. Hoffmann von Fallersleben und andere Sänger der Hymne auf die Gedankenfreiheit irren zum Beispiel, wenn sie den Raum der Gedanken auf den Schädel des Einzelnen beschränken. Einem Fürsprecher bedingungsloser und allgemeiner Gedankenfreiheit ist der Gedanke denkbar und doch gleichzeitig absurd, Gedanken in Rücksicht auf Schicklichkeit in Gewahrsam und Isolationshaft zu nehmen.

Der größte Teil der Körpermasse von Liu Xaobo befindet sich übrigens außerhalb des Gefängnisses. In seinem Buch The Secret Family errechnete David Bodanis 1997 (damals versuchte Ihr Vorgänger Jiang Zemin vergeblich, Liu Xaobo in einem Arbeitslager „umerziehen“ zu lassen), dass kein einziges Molekül unseres Körpers vor neun Jahren schon zu uns gehört hat. Nach dem Rhythmus fortwährender Zell-Erneuerung und dem Gesetz der Haltbarkeit der Atome befinden sich fünf von sechs Teilen eines 56jährigen Menschen naturgemäß außerhalb des gegenwärtigen Körpers. Das ist eine gute Nachricht: Auch Sie haben jederzeit die Möglichkeit, sich zu ändern. Sie können es gar nicht verhindern.

20. März 2011 16:02










Gerald Koll

Die Nacht

07:09

Siebenuhrneun
wendet sich ein Austernfischer ab.
Siebenuhrneun
steht an der Stirn der Mole ein Leuchtturm
Siebenuhrneun
verrutschen Kiesel, huschen Kaninchen, hängt ein Kasten wie gewohnt, doch

genau jetzt
steht
da
die Sonne
siebenuhrzwölf

zieht sie die Wolkendecke wieder über
siebenuhrzweiundzwanzig
saugt sie am Rosa, glüht und gähnt
siebenuhrsiebenundzwanzig
vertagt sie noch einmal den Dienstantritt
siebenuhreinundreißig

erfolgt, geschieht, ereignet sich der dritte gloriose Auftritt: DIE SONNE
gießt Rubingold in die Wellen: irgendwie sehr peinlich.
Die Lotseninsel wendet sich zum Tagewerk.
Nun gute Nacht, ihr nachtaktiven Mücken
in eurem Heckenrosenparadies.
Der Handwerker ist auf dem Weg zum Schuppen: „Moin!“

(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
Mit Dank an Inga Banse und Jörg Grabo

6. Dezember 2010 01:17










Gerald Koll

Die Nacht

06:34

Blau erfüllt wie jeden Tag
seinen Farbauftrag.
Schwarze Galloways auf gelbem Grund

stehen stiller als ein Kahn am Abend,
wenn Windhauchpinsel Flanken streichen.
Sechsuhrneunundvierzig: Da verliert ein Rind,

als sein Kopf zur Erde sinkt,
das Spiel, wer sich zuerst bewegt.
Starenwolken wabern, Möwenmeuten

nehmen Stege in Beschlag, ignorieren
einen grauen Vogel, Cutaway mit Buckel.
Er gehört nicht zur Familie.

Er ist ich, gehört zu mir
Wir sind uns fremd
Das Stillleben sind wir.

(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)

6. Dezember 2010 01:13










Gerald Koll

Die Nacht

05:47

Ein Hauch von Rouge, ein rosa Band,
zu früh, es ist noch eine Stunde hin
zum offiziellen Aufgang,

doch das da, dieses Rosa da – –
obszönes Rokoko auf jadegrünem Dekolleté – –
der Mond zieht sich entsetzt zurück.

(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)

6. Dezember 2010 01:11










Gerald Koll

Die Nacht

04:30

Bollro lag hier,
Agos und Fründ, Slimöv, Wombat, Jecca.
Gekerbtes Verzeichnis der Angeketteten.
Auch Schröder. Sogar Möwe.

Durchs Rauschen ein einsamer Schrei –
kläglich

Die Nacht nimmt Witterung auf.
Ein Stein wärmt meine Hand.
Nässe beißt in Bauch und Darm.
Sörnsen!

Sörnsen.

Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)(

6. Dezember 2010 01:08










Gerald Koll

Die Nacht

02:30

Blickt man vom anerkannten Seefahrtszeichen
auf das altbekannte, blinzelt drüben glühend rot
ein vertikaler Augenschlitz: ein Drache? Schreie.

Doch nähert man sich langsam, ändert sich die Lage.
Auf der Mole knirschen unter Sohlen leer gelutschte Leichenreste:
Die Knochengasse führt zum Monsterclown.

Mantel weiß, schwarzer Kragen, das Gesicht geweißt.
Zwei gekreuzte Stäbchenaugen, gelb der Nasenknopf
Lichter bilden einen Kranz um seine Mützenkrempe.

Amputierter Lotse.
Ausgelacht
von fressenden Geschwadern.

(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)

6. Dezember 2010 01:02