Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (185)

16. April 2016, ein Sonnabend

Die Pilgerei zu Zweit ist eine lässige Angelegenheit. Ich setze mich nicht der Fremde aus, mit D. habe ich ja Bekanntes um mich. Ein wenig vermisse ich das klamme Unbehagen, die einschleichende Kälte, wenn sich ein Weg verliert und niemand da ist, der helfen kann. Was wir hier tun, ist Wanderschaft in Kostüm, eine launige Besichtigung. Zum Beispiel eines auf dem Weg liegenden verlassenen Shinto-Tempels, aus dem wir gern ein Dojo machen würden … Abends finden wir wieder eine Notunterkunft, diesmal direkt neben einem öffentlichen Bad, das wir sofort aufsuchen. Wir leihen Fahrräder aus, holen Essen, sitzen draußen, genießen. Und wissen: Morgen geht es in die Berge. Morgen soll es regnen. Kosho Omoto hat für Shikoku in naher Zukunft das stärkste Beben seit 160 Jahren vorausgesagt. Beben bei schlechtem Wetter wäre dann doch nicht so schön.

In Kyushu scheint das Erdbeben, dessen Ausläufer wir in Tokio zu spüren bekamen, erheblich stärker gewesen zu sein als wir dachten. Mindestens 9 Tote, heißt es nach erster Schätzung. Dort wollten D. und ich eigentlich in den nächsten Tagen hin.

16. April 2017 07:21










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (184)

15. April 2016, ein Freitag

Was Mönch Kosho Omoto heute morgen seinem Gott zuraunte und mit Fingerzeigen zu verstehen gab, blieb mir denn doch verborgen. Auch kehrte er uns ja beim Goma-Ritual den Rücken zu. Das emsige Werkeln mit Holz und Samen freute mich, auch Rauch und Flamme, aber müde war ich dennoch. Das Leben des Mönchs Kosho Omoto verläuft auf beneidenswerte Weise unbeirrt. Beim Kaffee nach der Zeremonie erzählte er, er sei früh nach Tibet gegangen, weil ihm in einer Vision gesagt worden sei, dort würde er seinen Lehrer finden. Er ging also hin, fand den Lehrer und verbrachte bei ihm drei Jahre. Weiter erzählte er, er habe nach der Übersetzung eines tibetanischen Textes 40 Tage lang fastend meditiert. Am Ende konnte er kein Wasser mehr aufnehmen. Buddha habe ihm dann angeraten, ein grünes Blatt zu essen. Auch habe er sechs Monate lang in einer Höhle gelebt, versorgt von einem Jungen, der ihm immer mal etwas Gemüse vor den Eingang legte. Er selbst habe im Inneren gehaust, ohne Aussicht, im Dunkel. Sechs Monate! Ich wurde recht neidisch auf seine Visionen und seinen Buddha.

D. und ich zogen weiter. Einer meiner Lieblingstempel war vor zehn Jahren der sogenannte Bekkaku 1, der nicht zu den 88 Tempeln der eigentlichen Route gehört. Er stand immer noch mit seinem groben mächtigen Holz im wuchernden Grün. Der Koch einer Udon-Küche hatte sich, als wir bei ihm einkehrten, erboten, uns dorthin zu fahren. Er riet uns zum Abschied, den Rückweg über die Straße zu nehmen. Nahmen wir aber nicht, denn im Wald war es schöner. Allerdings entzifferten wir Schilder, die vor Giftschlangen warnten.

D. hat ein wenig Pech. Die Japan-Reise war für ihn eigentlich eine Flucht, um mit seinen Allergien dem deutschen Frühling zu entgehen. Hier aber blühen derzeit die Kirschen wie wild. Gerade jetzt, im Anraku-ji-Tempel, hat D. ununterbrochen gehustet, als würde er ersticken. Seit wir die Betten wieder eingerollt und verstaut haben, geht es besser. Sie müssen im Kirschblütenwind ausgelüftet haben.

15. April 2017 23:46










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (183)

14. April 2016, ein Donnerstag

Wir pilgern ein bisschen. Im ersten der 88 Tempel, die den buddhistischen Pilgerweg shikoku hachijū hakkasho markieren, ist alles genau wie vor zehn Jahren: derselbe Basar, dieselbe mürrische Verkäuferin, derselbe freundliche Kalligraph. Die Wege sind besser markiert als früher. Munteres Ausschreiten. Im Tempel „Aizen In“ wohnt noch immer Kosho Omoto, der Shingon-Mönch, den ich hier vor zehn Jahren kennenlernte. Auch er ist unverändert, ich erkenne ihn sofort, er mich erst nach und nach. Dank Kosho Omoto kommen D. und ich in einer kleinen Notunterkunft für Pilger unter, einer reizenden Hütte am Straßenrand, weniger als zehn Quadratmeter groß, vollgehängt mit Segenspapierchen. Den Abend verbringen wir zu Dritt im öffentlichen Bad. Es gibt Neuigkeiten: Kosho Omoto hat geheiratet, und Kosho Omoto hat eine neue Glocke. Um sie mit buddhagefälliger Energie aufzufüllen, hält Kosho Omoto täglich eine dreistündige religiöse Zeremonie ab, ein Goma-Ritual, 1.000 Tage lang. Dank meiner Aufdringlichkeit dürfen D. und ich morgen früh dabei sein, in der letzten der drei Stunden, wenn die geheimen Gebete zu Nyorei gemurmelt sind und Kosho Kräuter und Samen verbrennt.

Der Mönch erzählte, dass die Pilgerweg-Beschilderung zwischenzeitlich sogar besser gewesen sei als jetzt; seit dem letzten Jahr allerdings wurde sie wieder schlechter, denn Korea ließ die von Korea gestifteten Schilder wieder abmontieren, nachdem Japan seine Entschuldigungen für die japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg (Folter, Massenmorde, Sex-Sklaverei und mehr der Greuel) zurückgezogen hatte.

14. April 2017 13:41










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (182)

13. April 2016, ein Mittwoch

Heute morgen waren wir pünktlich. Um halb drei standen wir am Gatter der Fisch-Auktion, aber heute fand gar keine Fisch-Auktion statt. Das hatte D. schon vorher vermutet, aber der weltbeste Gastgeber Yutaka hatte das entschieden verneint. Die Rückfahrt verlief diesmal kleinlaut. Ich fürchte, wir haben Yutakas Hilfe überstrapaziert. Er drängt sie aber auch auf, auch am Morgen, als wir die anstehende Reise-Woche nach Kyoto, Shikoku und Kyushu vorbereiten. Yutaka hilft, will unbedingt Pläne, Termine und Adressen ermitteln, doch seine Hilfe verzögert alles, und als D. und ich im Shinkansen sitzen, ist es bereits nach Mittag. Immerhin: Yutaka hat uns auf unseren Wunsch beim Teemeister Urasenke in Kyoto für eine japanische Teezeremonie angemeldet. Das wollte ich schon lange. Dies schreibend, sitze ich in jadegrüner Yukata unter einer rosafarbenen Decke in einem Hotel in Okoyama und hoffe auf regenfreie Wandertage auf dem Pilgerweg.

13. April 2017 09:42










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (181)

12. April 2016, ein Dienstag

Heute 1:45 Uhr hoch, nach einer Stunde Schlaf. Um 2:20 Uhr fährt uns Yutaka zur berühmten Fischauktion. Um 3 Uhr muss man dort sein, um einen der begehrten Zuschauerplätze zu bekommen. Da wir keinen Parkplatz finden, stehen wir um 3:20 Uhr am Gatter und werden fortgewinkt: zu spät. Yutaka, der beflissenste aller Gastgeber, tröstet uns mit einem Fisch-Frühstück im Fischmarktviertel. Ich wusste gar nicht, wie viel Geschmack roher Fisch haben kann. Mit dem Bauch voll rohen Fisches blicke ich vom Beifahrersitz über bewegungsunscharfe Geländer des Highways und über den Edo-Fluss auf die Tokioter Skyline. Darüber zieht morgendämmernde Sonne Farbschleier. 6 Uhr wieder daheim.

Mittags in die Stadt. Diskrete Stille in den U-Bahnen. Man liest, spielt auf Smartphones, spricht gedämpft, schläft. So anders als im Berliner Aggressionsstau. Japanische Schulschönheiten: zart und delikat, zwischen Fetischfieber und Frömmigkeit.

Jiro Taniguchi geht nach eigener Aussage gern im Kichijoji-Park spazieren. Ich also auch. Die Sitzgelegenheiten sind so diskret separiert wie in Speiselokalen, hier meist durch schmales Buschwerk. Aber Taniguchi sitzt nicht, wo ich sitze. Sitzt auch nicht in einem jeder Ruderboote in klassischem Ruderboot-Format, in denen so viele Angestellte ihren Feierabend absolvieren. Sitzt auch nicht in einem jener Tretboote in Form schwimmender Schwäne. Sitzt auch nicht bei jenen Menschen auf den Decken, die so manierlich und sittsam und sauber hier sitzen und in Chören staunen, wenn ein Teilnehmer Staunenswertes äußert. Der spazierende Taniguchi sitzt nicht. Ich werde ihn nicht finden. Ich suche ihn ja auch nicht wirklich. Ich tu nur so. Ich spiele den suchenden Mann.

Imposant sind ja Leute wie jener junge Mann aus Amerika, einem unserer Nachbarn in den Container-Appartements von Yutaka: Er wohnt seit zwei Wochen dort und verließ es bislang nur für einen Ausflug ins Elektronikviertel. Auf der Rückfahrt war er beim Aussteigen aus der U-Bahn so sehr in sein Smartphone vertieft, dass er in den Spalt der Bahnsteinkante trat und mit dem Arm aufschlug (Smartphone gerettet!). Seither verlässt er sein Zimmer noch nicht mal zum Essen. Per Smartphone ruft er Yutaka an: „I’m hungry!“ Yutaka bringt dann Essen.

Yutaka lädt mich abends zum Essen, als ich vom Aikido-Training (Leitung: Osawa-Shihan) zurückkomme. Yutaka stellt mich seiner Frau und seinem autistischen Sohn vor. Sie spricht kein Englisch, er spricht gar nicht. Danach verbringe ich eine dreiviertel Stunde in Yutakas neuem monströsen Massage-Sessel, der jeden Körperteil walkt. Es ist 23 Uhr. In zwei Stunden wollen wir zum zweiten Mal zur Fisch-Auktion aufbrechen.

12. April 2017 09:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (180)

11. April 2016, ein Montag

Heute drangen D. und ich in Buddhas Wesen tiefer ein als je zuvor. In Kamakura steht eine betretbare Statue. Von innen schaut man aus den Schulterblättern heraus.

Das öffentliche Bad des Stadtteils Matsudo ist günstig (umgerechnet fünf EUR) und raffiniert. Wenn man zum Abkühlen auf dem Beckenrand sitzt, tunkt der Penis in umspielende Strudel. Wie derb und verstunken sich das deutsche Waschgebaren ausnimmt gegen die jedermannverbindliche japanische Badekultur. Spät aus dem Onsen nach Hause. Es bleibt uns eine Stunde Schlaf bis zum Aufstehen.

12. April 2017 09:25










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (179)

10. April 2016, ein Sonntag

Ein Tag in Kokobunji, einem Stadtteil von Tokio, wo Jiro Taniguchi wohnt. Seine genaue Adresse kenne ich nicht. Mit etwas Glück/Pech fuhr er vorhin mit dem Fahrrad an mir vorbei. Als ich vor dreißig Jahren die Lebensstationen des damals sehr verehrten Hermann Hesse aufsuchte, fühlte ich mich immer wieder „durchweht von historischem Hauch“: Hier wuchs er auf, hier litt er im Internat, hier goss er Blumen. Das wünschte ich mir auch von meinem Besuch in Kokobunji. Aber das geschieht nicht. Meine Romantik ist Attitüde. Vor meine Blicke auf die Stadt schieben sich oft Erinnerungen an Taniguchis Zeichnungen. Ich errechne die Algorithmen seiner Blick-Verarbeitung. An vielen Stellen filme ich eine mitgebrachte Miniaturfigur, einen rot-blau gekleideten älteren Herrn mit übereinander geschlagenen Beinen, der eine Zeitung liest. Das Filmchen müsste Der lesende Mann heißen und in Bezug zu Taniguchis Manga Der spazierende Mann stehen.

Ich esse Teigtaschen in einem dieser pragmatischen Küchen, in denen Kunden an einem langen schmalen Tisch sitzen, jeder an einem Tischabschnitt in der Größe eines DinA4-Blatts, durch kleine Paravents abgeschirmt Gästen nebenan und gegenüber, versorgt von fürsorglichen Kellnerinnen, die kein Trinkgeld nehmen, da man bereits beim Eingang sein Essen im Automaten bestellt und bezahlt hat.

Zwei Trainings bei Kanazawa-Shihan und dem Doshu, also Moriteru Ueshiba, dem Enkel vom O-Sensei. Die Matte ist knüppelvoll. Ranghohe Partner, frei von Allüren.

10. April 2017 09:15










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (178)

9. April 2016, ein Sonnabend

Um fünf Uhr aufgewacht, gleich weitergeschlafen; sechs Uhr aufgewacht, gleich weitergeschlafen; sieben Uhr wieder wach. Marode aber heiter fuhren D. und ich zu einer öffentlichen Vorführung verschiedener Budo-Verbände. Die Kampfanzüge waren sehr schick. D. fuhr dann zu seiner Schwert-Gruppe, ich blieb allein zurück, irgendwo in Tokio. Ohne Straßenkarte und Handy war mir da, als stünde ich oben auf einem Planetballon, dem plötzlich die Luft entwichen ist und der nach allen Seiten steil abfällt. Kribbeln. Mangels Haltepunkt holte ich umgehend meine Kamera heraus, um mir und der Umgebung mitzuteilen, ich hätte hier ganz dringend zu tun. Irgendwie fand ich zurück.

9. April 2017 10:16










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (177)

8. April 2016, ein Freitag

Letzte Nacht rumpelte es unter uns, als würden wir über einer U-Bahn-Trasse wohnen, aber hier verläuft keine U-Bahn. Es wirkte auch weniger technisch, eher organisch, als hätten wir im Keller einen Drachen, der sich im Traum wälzt. Wir erfuhren, die Erde habe gebebt.

Jetzt ist es schon wieder Nacht. Mit dem letzten Zug haben wir es gerade noch geschafft, gehetzt von Bahn zu Bahn, von Kawasaki nach Matsudo. Die Waggons waren überfüllt mit Angestellten, die nach dem obligaten Freitagfeierabendbesäufnis nach Hause wankten. Ein Gesellschaftsproblem, beklagt auf Plakaten.

In der Tokyo-Station beobachteten wir einen Herrn, den man sich dem Äußeren nach als seriösen Herrn in leitender Position denken würde. Sein Zustand war desolat. Soeben torkelte er die Treppe hinab, als seine Hose zu den Knien rutschte. So stolperte er weiter. Ein Zweiter fiel und purzelte. Einen Dritten schleiften Beamten aus dem Zug und legten ihn auf dem Plafond ab. Wir haben Tränen gelacht.

5 Uhr Wecken, Training von 8-9 Uhr bei Irie-Shihan mit zwei geschmeidigen Japanerinnen, Training von 15-16 Uhr bei Seki-Shihan mit einem robusten Rumänen, Training 20-21:30 Uhr bei D.s Schwert-Meister Sugino-Sensei. Ich wurde immer konfuser. Aikidoka luden dann zum Essen. Das war unbequem, denn nach den drei Trainings bekam ich Wadenkrämpfe und viel Durst, aber wir saßen im Schneidersitz bei Bier und Sake. Man bestellte eingelegte und vergorene Sojabohnen, außerdem Schweinekopf am Schaschlickspieß.

Jiro Taniguchis Manga namens Nakano Broadway trieb mich zum Nakano Broadway, einem Einkaufpalast auf vielen Etagen. Unter grellem Bunt und Wild befand sich auch ein reizendes Café im schlicht-klassischen Stil der 60er Jahre, als sei es ein Filmset von Ozu. Auch eine riesige Buchhandlung war da, in der ich ein Manga von Taniguchi kaufte.

Der Wäschetrockner piept. Es ist 2 Uhr durch. Der Wecker ist auf 5 gestellt.

8. April 2017 18:02










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (176)

7. April 2016, ein Donnerstag

Unsere Unterkunft in Tokio liegt eineinhalb Zug-Stunden vom Zentrum Tokios entfernt. Sehr weit draußen, aber dafür drinnen sehr eng: auf der Fläche einer Tatami-Matte befinden sich zwei Betten, eine Dusche, ein WC, eine Mikrowelle, eine Küche, ein Trockner, ein Fernseher – japanische Wohnschachtelperfektion. Der nette Wirt heißt Yutaka, während das hausmantelartige Kleidungsstück ja Yukata heißt. Das führt zu Verwechslungen.

Um den Jetlag niederzuzwingen, halten D. und ich uns wach und suchen das Hombu-Dojo. Wir schauen beim Training zu (Leitung: Eto-Shihan). Viel Unruhe auf der Matte. Danach auf ein Bier ins Vergnügungsviertel mit peinlichem Foto mit Bier und Wirtin. Wie ich sie hasse, diese peinlichen Fotos mit Bier und Wirtin!

7. April 2017 07:34