Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (175)

6. April 2016, ein Mittwoch

Um 4:17 Uhr weckt mich ein Anruf aus Japan: Unser Airbnb-Vermieter bestätigt die Buchung und wünscht gute Reise. Später liebreicher Abschied von Frau S. an der Tram. Deren Timing ist perfekt. Im Flieger lausche ich der Musik: das sind die finnischen Durchsagen einer Stewardess.

Die Reisetablette eilig ohne Wasser eingenommen. Der Speichel reicht nicht zum Verdünnen und Auflösen. Zwischenstopp Helsinki. Beim Landeanflug stieben Schmerzfunken in die linke Stirn- und Nebenhöhle. Dafür Bitterkeit und Taubheit im Rachenraum. Dort schmilzt die Tablette.

6. April 2017 07:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (174)

5. April 2016, ein Dienstag

Unterströmungen reißen die Füße weg. Morgens im traulichen Zweierlei säusle ich heimelnd, doch durch die Kaldaunen des Gehirns schieben sich Formulierungen, die auf Abstand halten. Ich kann’s innerlich nicht abfließen lassen, die Wörter reißen mir die Füße weg, je mehr sie sich wälzen und schieben gegen alle Innenwände. Arbeit, Gentleman, Wucht, (… drei Punkte …), brummende Brocken schieben peristaltisch durchs Geschehen, wie soll da die Liebe schmiegen und schmieden? Und das Tagebuch ist wieder einmal Sickergrube, Dampfeimer der Dinge, die Frau S. mir um die Ohren schlüge, würde sie hineinschauen.

Gleichzeitig höchste Anhänglichkeit. Gestern zum Beispiel ließ ich Aikido sausen, weil mir nichts angenehmeres vorstellbar war, als mit Frau S. Ovid zu lesen, Tati zu schauen und den See zu umrunden – die Fluchtphase vor dem Aufbruch. Am liebsten einfach liegen bleiben, am Tropf des Alltags. Das Ungewisse ist immer noch eine Höhle, aus deren Dunkel der Drache speit. Ängste versuche ich mit Muskelkraft zu Vorfreude umzumünzen. Morgen geht es los. Wie das wohl wird mit D. an der Seite, diesem männlichen Mann, der sympathisch, loyal und belastbar wirkt, manchmal aber auch leicht chaotisch. Mal sehen, wie lange wir gelassen bleiben, wenn Pläne scheitern und wir nicht mehr wissen, wowiewann wir übernachten können.

5. April 2017 09:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (173)

4. April 2016, ein Montag

Die Nervosität steigt. Übermorgen geht es los nach Japan. Das Wochenende mit Frau S. verlief mit Aussicht auf Abschied: Spazieren, Planung des runden Geburtstags im Arbeiter-Strandbad Weissensee, gemeinsame Lektüre. Ihr Gekränktsein, sofern ihre Lust nicht auf Gegenlust stößt, kränkt mich.

D. und ich haben auf den letzten Drücker eine Unterkunft in Tokio besorgt. Es war einigermaßen hektisch. Die Reise ist alles andere als durchgeplant. Wie schmuggeln wir, die wir keine Mitglieder im Aikikai sind, uns bloß ins Hombu-Dojo?

4. April 2017 12:39










Gerald Koll

Fehlendes Glück …

… heute vor 100 Jahren

1. April 2017 18:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (172)

1. April 2016, ein Freitag

Heute drei Aikido-Einheiten, ich bin völlig im Eimer, irgendwie herrlich.

1. April 2017 08:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (171)

29. März 2016, ein Dienstag

Zwei Tage wie hinter Barrikaden, zurückgezogen in meine kleine hübsche Wohnung. Nur zum Training gestern Abend bin ich raus, und selbst dazu musste ich mich zwingen. Ich habe diesen Drang, mich von allem Sozialen abzuschotten und zum Käfer zu werden. Las Stevensons Dr. Jeckyll in der Übersetzung von M., der an einigen Stellen überraschend das englische Original durchscheinen ließ, wie jene Restauratoren, die am Ende ein paar Stellen unbehandelt lassen aus Respekt vor dem Ursprungszustand.

In der Nacht träumte ich, in Japan verloren zu gehen. Es müssen die Morgenstunden gewesen sein, denn zuvor war ich bereits erwacht mit üblem Schmerz in den Nebenhöhlen und glücklich wieder entschlummert. Dann war mir, als bebte die Erde. Dann wiederum ging ich über einen Steg, wie um eine Insel, immer weiter vorwärts, aber ohne Plan, und am Ende wusste ich nicht mehr, wie ich zurückkommen sollte, wie ich irgendetwas finden oder auch nur den Reisegefährten D. wiederfinden sollte. In mir schwamm das unklare Gefühl von selbst eingebrocktem In-der-Irre-Sein. Entsprechend trübe erwachte ich erneut, nun mit lähmender Schwere im Gebein. Das Aufstehen als Akt mit ungewissem Ausgang.

Nach dem Aikido meine tägliche Fanta mit Limette und einem Schuss Eierlikör – fast schon ein Muss.

27. März 2017 11:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (170)

27. März 2016, ein Oster-Sonntag

Heute morgen strebte im späten Morgentraum Herr T. in grauem Mantel und Aktentasche an mir vorüber. Dem Anschein nach war er etwa vierzig bis fünfzig Jahre alt – in jenem Alter, in dem er für mich noch Nenn-Onkel T. war. Und erwachend überlegte ich, wie es denn käme, dass der nun weit in die 80er gejahrte T., mit dem ich doch keinerlei Berührung habe als durch zeitweilige Berichte der Eltern, mir so unvermutet und überraschend begegne. Und natürlich drängte sich der Verdacht auf, es mute ja wie jene Träume an, in denen Verstorbene sich noch einmal kurz blicken lassen. So stand ich auf und rief, wie es das Sonntagsritual will, bei den Eltern an. Meine Mutter erzählte, ohne danach gefragt worden zu sein, am Mittwoch werde Herr T. beerdigt. Er war am vergangenen Sonntag nach kurzer, schwerer Leukämie überraschend verstorben. Nun überlege ich sehr intensiv, ob meine Mutter in jüngster Vergangenheit Andeutungen gemacht hatte, die Herrn T. in mein Gedankenfeld hätten rücken können. Weder meine Mutter noch ich können sich daran erinnern, obwohl ich das leicht Spukhafte dieser Rundgänge Verstorbener gern dem Labor der Psychologie überließe. Aber diese Koinzidenz ist arg.

26. März 2017 14:25










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (169)

26. März 2016, ein Oster-Sonnabend

Mein schwerer herzlicher Freund, dem in Kindertagen nicht anzusehen war, dass er nicht nur geistig Luthers Format zum Vorbild nehmen würde, sitzt nach zwei berliner Nächten wieder im Zug, und nun ostert die Sonne wie wild. Man hat von einer Minute auf die andere falsche Klamotten an. Morgens noch gefröstelt, ein halbhartes Ei später weiß man nicht, wohin mit Pulli und Mantel.

Wir besuchten die Matthäuspassion in der Philharmonie. Litten schadenfroh, als der Tenor seine Rezitative schief in die Ränge säbelte. Dazu eine Gambe, die sich binnen von fünf Takten verstimmte. Die Gambistin errötete – sehr schön. Dann heiteres Disputieren mit dem pastoralen Prachtfreund: Die neuere protestantische Theologie scheint sehr beflissen darin zu sein nachzuweisen, dass die Schuld an Jesu Hinrichtung nicht, wie es das Matthäusevangelium nassforsch einherbrüllt, die jüdischen Hohepriester trifft, sondern die – im selben Evangelium aus der Schusslinie gerückte – römische Justiz. Auffällig deshalb, weil die theologische Bibelforschung erstens) es sonst mit der historischen Akkuratesse gern weidlich ungenau nimmt und jeden historischen Einwand mit dem Hinweis auf den „wahren Kern“ vom Altar wischt; und weil sie zweitens) offenbar ein erhöhtes Interesse hegt, jedem Antisemitismus-Vorwurf zuvorzukommen. Welche rhetorische Finessen würde sie treiben, wenn die Nazis römische Justiziare verfolgt hätten? Im Grunde fein, an so einem Tag im bequemer Geselligkeit mit dem pastoralen Freund im Trüben der Religion zu fischen.

Schreck zur Nachtstunde: beim Zähneputzen einem alten verwitterten Mann mit Kapuze begegnet – im Spiegel.

24. März 2017 13:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (168)

25. März 2016, ein Karfreitag

Betty Buttermilch liegt auf dem jüdischen Friedhof. Geboren 1862, gestorben 1920. Als ich im August 2005 dort war, fand ich Täubchen Bernheim, geb. Gimpel (1830–1907). Wie es wohl war, Mädchen mit solchen Namen seine Aufwartung zu machen?

23. März 2017 21:21










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (167)

22. März 2016, ein Dienstag

Sehne mich nach Nachtruhe. Und kaum, dass ich gestern vor dem Dojo auf Frau S. stoße, schlage ich auch schon vor, ob sie nicht die Nacht bei mir verbringen wolle. Gleichzeitig lähmt mich Mattigkeit, fast wie kränkliche Schlaffheit. Der Alkohol der Sonntagnacht. Heute erwacht in trübem Kreiseln: Leerlauf permanenten Urlaubs. Hin zum Training, zum Dojo, auf die Matte. Auch da: Mattigkeit, trotz guter Kondition. Mein versteiftes Ukemi nervt mich an, wenn der sensei mich nach vorn holt, und dieses Genervtsein lässt mein Ukemi nicht besser werden lässt. Geradezu Angst befällt mich dann vor solchem Schau-Ukemi, obwohl ich danach lechze. Selbst im Aikido kocht und brodelt es aus meinen Zwiespalten, die ich im Aikido zu lösen suche.

22. März 2017 10:31