Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben5

Soviele Haare und keinen Kamm
Meine Großmutter mochte Katzen nur von vorn. Sie sagte: »Kiek mal, wie die ihren Po zeigt«, wenn eine Katze quer über den Weg rannte und im Gebüsch verschwand. Katzen huschten auch über die Gräber, vor denen meine Großmutter und ich auf einer Bank saßen. Hunde waren auf dem Friedhof nicht zu sehen, sie hätten die Totenruhe gestört. Meine Großmutter bewachte das Grab ihres Mannes und ich konnte die Steinchen des Kieswegs durch die Finger gleiten lassen. Sonntags machten meine beiden Schwestern und ich einen Spaziergang zum Grab des Großvaters, Beate sagte einen Satz, Gisela sang ihm einen Schlager vor, den sie der Haushaltshilfe abgelauscht hatte. Jetzt war unser Vater dabei, die Großmutter kochte das Mittagessen, damit unsere Mutter in die französische Messe gehen konnte. Oft gab es »junge Hunde mit Schoten«.
Auch mir wurden Schlager beigebracht, von der Großmutter. Wenn Gisela sang: »Cindy, o Cindy, Dein Herz muß traurig sein!«, dann konnte ich: »Justav, Justav, ärjere dich nicht« singen, oder: »Wenn in Berlin mal wat passiert, n oller Droschgenjaul krepiert«.
Meine Großmutter war nicht besonders tierlieb, sie war ein Berliner Gör und liebte Dialekte. Sie selbst hatte eine schlesische Großmutter gehabt, die unfreundliche Sätze hervorstieß, es waren immer dieselben zurechtweisenden Redensarten, die meine Großmutter nur sehr schwer aussprechen konnte. Sie sagte sie trotzdem gern und häufig. Es sind die ersten Rätsel meiner Kindheit. Sonntags, wenn sie das Schweinefilet in Rahmsosse (mit Kondensmilch) zubereitet hatte, das mit gemischtem Gemüse serviert wurde, heimlich verfeinert mit einer Prise Zucker und einem Stück Butter, sagte sie gern beim Anschneiden: »dröch assn Kattennoas«. Wieso sollten die »jungen Hunde« plötzlich trocken wie ein Katzenarsch sein? Damals hat es keinen von uns gestört. Hermeneutisches Denken war meiner Großmutter fremd. Ein Lacherfolg war ihr mehr wert, als die Hochachtung ihrer Umgebung. Das heißt nicht, daß sie ohne Stolz war. Wie bei fast allen Menschen gab es bei ihr auch ernste Phasen. Eine solche Stimmung war allerdings wie weggewischt, wenn sich die Gelegenheit für einen Witz bot, und sei sie noch so fernliegend. Natürlich lachte von uns schon lange keiner mehr über ihre skurillen Einfälle, seltsamen Benennungen. Aber man fand sie lustig. Wenn ich fragte: »Oma, was machst du für ein Gesicht, wenn du tot bist?«, blies sie die Backen auf und streckte die Zunge heraus. Das war undenkbar am sonntäglichen Mittagstisch. Der Kattennoas war die größtmögliche Abweichung von der gepflegten Atmosphäre eines festlichen Bratenessens.
Meine Großmutter hatte zahlreiche Freundinnen, alte Damen, Flüchtlinge wie sie. Wir besuchten Frau Rödder, eine schlesische Freundin, die ihr Gebiß in der Kaffeekanne aufbewahrte. Wir besuchten Frau Gloßmann, die unlängst noch schnell ein Foto von ihrem Mann gemacht hatte, als er tot im Bett lag. Solche Geheimnisse vermochte meine Großmutter nicht zu hüten. Sie machte uns Kinder auf die Eigenheiten ihrer Freundinnen aufmerksam, Friedhofsbekanntschaften. Frau Gloßmann war bemüht, immer möglichst vornehm zu formulieren. Der Straßenarbeiter dort vorn in der Grube war »ein Herr«. Herr Gloßmann war ihr »Gatte« gewesen. Als Schlesierin mied sie das i, um sicherzugehen. Sie sagte »Kürche«, »Tüsch«. Meine Großmutter sagte, sie macht einen »Mund wie nen Katzenpopo.« Bei der Gloßmann und der Röddern sprach meine Großmutter niemals Platt, sie hätten alles verstanden. Anders die alemannischen Eingeborenen unseres mittelbadischen Städtchens, die immer nur Nase verstanden. Oft wurde meine Großmutter auf der Straße begrüßt: »ach, da kommt ja die Berliner Oma!« Jetzt wurde viel gelacht. Was hat sie ihnen erzählt?
Ich habe nie herausgefunden, aus welchem der vielen niederdeutschen Dialekte all diese seltsam unschuldig-obszönen Katzenärsche stammten. Meine Großmutter hatte auch eine mecklenburgische Großmutter (wie ich noch eine elsässische Großmutter hatte), von der ebenfalls einige Sprüche überliefert sind. Wenn ich die Ellbogen aufstützte und mir die Ohren zuhielt (wir waren mittlerweile vier Kinder im »kleinen Zimmer«), sagte meine Großmutter zu meinen Geschwistern »kiek de kierl, Mecklenburger Wappen!« Heute weiß ich: ein Ochse mit ausladenden Hörnern. Damals wußte ich es nicht. Es gab nun auch Rätsel, die mich mehr beschäftigten als die Witze meiner Großmutter. Die großen Fragen der Heiligen Messe, die ich seit neustem als Schüler sonnntags besuchen mußte. Außerdem die Frage, wohin geht die Königin von Eschnapur in dem Lied von Hans Albers?
Später, als meine Großmutter lange tot war, ich hatte ein Studium in Heidelberg begonnen, gab es einen Kater in unserer Wohngemeinschaft. Es war ein schwarzes Tier. Er hatte das Fell einer Perserkatze, das heißt, es war zu dicht für seine nächtlichen Abenteuer. Der Refrain des Liedes von Hans Albers kam mir wieder in den Sinn: »Oh Signorina, -rina, -rina oh Signore, / soviele Haare und keinen Kamm.« Und ein weiterer Spruch meiner Großmutter, bei Friedhofspaziergängen beiläufig erwähnt: der ist schon so lange tot, der steht bald wieder auf. Der Kater wurde überfahren, er schlich sich mit einem Blasenriß in den Keller, wo wir ihn unter einem Regal fanden, lautlose Schreie ausstoßend und schwach. Als mein Vater gestorben war, mußte ich in einer ersten Zeit abends die Großmutter nachhause begleiten. Oft blieb sie im Dunkeln auf der Straße stehen und begann zu schreien. Zuhause sagte sie zu mir, Kindchen ich mach das Fenster auf und spring hinaus. In der Wohngemeinschaft war man schon in normalen Zeiten an dem Kater, den ein Renegat zurückgelassen hatte, nur mäßig interessiert. Normalerweise kümmerte sich Angelika um ihn, trennte die verfilzten Fellstücke mit der Nagelschere von seiner Haut. Jetzt fütterte sie ihn mit Leberstückchen, oder Lunge, die ein schaumiges Geräusch machte, wenn er hineinbiß. Die Großmutter ist nicht gesprungen, sie starb einen witzlosen Tod. Jahrelang wollte sie nicht einmal mehr Fernsehen. Sie saß in ihrem Zimmer und wartete auf die Dunkelheit. Als er wieder etwas zu Kräften gekommen war, fuhren wir den schwarzen Kater zum Arzt, der ihn gegen einen Zehner untersuchte. Er wird schon durchkommen, meinte er, oder auch nicht.

aus: Oleg Jurjew (Hg.), Das Buch Nero. Festschrift für einen Dienstkater. Heidelberg, Wunderhorn 2009.

12. Januar 2010 11:46










Hans Thill

Farai un vers

Ich mache einen Vers aus Zwanzig Zehn
nehme Zement und
viele Vögel ich nähe Zwillinge
aus Engeln zwing
Onkel Dante rein und ein Pfund Schnee

Je ferais un vers de vingt et dix prends
une valise un
dossier un jumau à coudre je prends
Monsieur Monstre avec
vingt autres anges de cinquante pourcent

I´ll make a verse of twenty ten
take glue for birds
and vowels making sense a twin to
hammer my Dandy
Dante with feet for Saints and teeth of tin

31. Dezember 2009 15:28










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben 4

Neros Größe war gerade normal, sein Körper fleckig und stinkend, sein Haar hellblond, sein Gesicht eher hübsch als anziehend, seine Augen blaugrau und beinahe kurzsichtig, sein Nacken dick, sein Bauch vorstehend, seine Beine äußerst dürr, seine Gesundheit robust.
Sueton, Nero

30. Dezember 2009 13:09










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben 3
Kater Nero selbst

Kater Nero selbst

22. Dezember 2009 00:51










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben2

katz
huet dich vor den katzen – die vorn lecken unde hinden kratzen
Deutscher Holztafeldruck um 1500

17. Dezember 2009 22:47










Hans Thill

Kater Nero, Edenkoben 1

Das älteste dokumentierte Rätsel wurde von dem schottischen Ägyptologen Henry Rhind im Jahre 1858 in Luxor auf einer Papyrusrolle, dem später nach ihm benannten Papyrus Rhind erworben. Der Verfasser dieser Papyrusrolle trug den Namen Ahmes (auch Ahmose). Das Dokument selbst stammt von ca. 1650 vor Christus. In einer Notiz am Rande merkt der Verfasser an, dass er dieses Rätsel aus einer 200 Jahre zurückliegenden Quelle abgeschrieben habe. Damit dürfte es fast 3860 Jahre alt sein. Die Schriftrolle, die im British Museum aufbewahrt wird, gibt die als das Katzen-und-Mäuse – Rätsel bekannt gewordene Aufgabe an:

»Es gibt sieben Häuser, in jedem Haus wohnen sieben Katzen. Jede Katze frisst sieben Mäuse, von denen wiederum jede sieben Kornähren gefressen hat. In jeder Ähre sind sieben Samen. Wie viele Objekte sind es? «
Die Lösung ist rein mathematisch: 7 + 72 + 73 + 74 + 75 = 19607.
(Wikipedia)

17. Dezember 2009 00:03










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter

JOSÉ MARIA DE HEREDIA

Grabepigramm

Hier liegt die Grille, die zwei Jahre lang
die junge Helle, Fremder, aufgezogen
und deren Flügel zitternd unterm Bogen
des Zackenfußes in den Büschen sang.

Die Muse, ach! des Feldes und der Brache,
sie ist verstummt, die Leier der Natur;
geh schnell vorüber, Freund, laß keine Spur,
damit aus leichtem Schlaf sie nicht erwache.

Dort ist es. In den Strauß von Thymian
hat jüngst den weißen Grabstein man getan.
Wieviele Menschen mußten so nicht enden!

Von Kindestränen wird ihr Grab benäßt,
auf das die Morgenröte Weihespenden
von Tau in Tropfen niederrinnen läßt.

Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel

12. November 2009 14:15










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter

JOSÉ MARIA DE HEREDIA

Lupercus
M. Val. Martialis Lib. 1, Epigr. 118

Lupercus sprach sobald er mich erblickte:
»Dein neues Epigramm ist eine Zier;
wie wäre es, wenn jemand ich zu dir
nach allen Rollen deines Werkes schickte?«

– »Nein, denn dein Sklave hinkt, bedarf der Schonung:
Mein Haus liegt ganz im andern Teil der Stadt;
du wohnst am Palatin? Genau dort hat
Artrecus, mein Verleger, seine Wohnung.

Am Forum, im Geschäft, verkauft er viel:
Terenz und Phädrus, Plinius, Vergil, –
das Buch des Lebenden und die der Toten;

Dort wird – gewiß nicht an der letzten Wand! –
gebimst, in einem roten Band,
Martial für fünf Denare feilgeboten.«

Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel

8. November 2009 12:50










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter

JOSÉ MARIA DE HEREDIA

Die Kentaurin

Einst schweifte zahllos die Kentaurenschar
durch Bach und Wälder, über Fels und Schatten;
auf ihren Flanken spielten Licht und Schatten,
zu unserm blonden kam ihr schwarzes Haar.

Die Wiese blüht umsonst. Wir sind allein.
Die Höhle liegt verwuchert und verlassen,
und manchmal kann ich mich beim Zittern fassen,
wenn fern in heißer Nacht die Hengste schrein.

Denn jenen hohen Stamm von Wolkenkindern
sieht jeder Tag sich immer mehr vermindern,
da er von uns sich weg der Frau zukehrt.

Macht ihre Liebe selbst uns doch zu Tieren;
das uns entlockte Schreien ist ein Wiehern,
und nur als Stuten werden wir begehert.

Aus: Die Trophäen / herzlichen Dank an den Übersetzer Hanns Grössel

2. November 2009 18:33










Hans Thill

Balkanische Alphabete (kleine form)

2009_Oskar Pastior Poetry Festival(2)

30. September 2009 10:08