Kerstin Preiwuß

Legende

Einmal gab es eine Frau, deren Vater starb, als sie im Urlaub war. Sie erfuhr am Telefon davon. Sie erholte sich und lebte weiter. Vier Jahre danach hatte ihr Stiefvater einen tödlichen Autounfall. Sie erfuhr am Telefon davon, fuhr zum Unfallort, saß drei Tage an seinem Bett, bis er gestorben war, und lebte weiter. Zwar blieb sie äußerlich unbeteiligt, aber sie hatte von allem doch einen inneren Schaden genommen, so dass sie beschloss, um zukünftigen schlechten Nachrichten entgehen zu können, sich in die Einsiedelei zurückzuziehen. Sie zog in eine Höhle und richtete sich dort ein. Es war wie im Himmel, denn nichts von der Welt drang mehr zu ihr. So lebte sie ohne ein Gefühl für Zeit und es war gut. Eines Tages jedoch hörte sie dem Vogelgesang länger zu und bemerkte dabei, dass sie ihn verstehen konnte. Entsetzt lief sie in ihre Höhle zurück, aber in der Höhle begriff sie, dass die Steine murmelten und sie das Gemurmel der Steine verstehen konnte. Die Vögel sprachen, die Steine sprachen, und alle erzählten sich, wer gerade aus der Welt geschieden war und wer es bald tun würde. So erfuhr sie, die sich an einen Ort begeben hatte, der wie außerhalb von allem war, von allem zuerst.

23. März 2010 13:38










Kerstin Preiwuß

William Wordsworth:

I would enshrine the spirit of past/For future restoration
Ich möchte den Geist der Vergangenheit/für zukünftige Heilung einbalsamieren.

Geht das?

3. März 2010 19:12










Kerstin Preiwuß

und der König verneigt sich ein wenig
und die Nacht kommt gewöhnlich zu Fuß
und vom Dach der Fabrik in den Fluß
leuchten zwei Schuh
verkehrt und noch so früh neonbleich
und der eine tritt uns das Maul zu
und der andere tritt uns die Rippen weich
am Morgen gelöscht die Schuhe aus Neon
und der Holzapfel launig der Ahorn errötet
die Sterne am Himmel fahren wie Popcorn
und der König verneigt sich und tötet

aus: Herta Müller: Im Haarknoten wohnt eine Dame. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2000

Zu Anfang verneigt sich ein König und man möchte denken: Ist es königliche Höflichkeit, vielleicht eine Verneigung während einer Zeremonie? Ist der König huldvoll und erkennt mit leichter Verbeugung an, dass da jemand vor ihm steht, ein Gesandter vielleicht? Geschieht es jemandem zu Ehren? Wird jemand belohnt? Oder hat der König gar eine Niederlage erlitten und muss sich seinem Gegner unterordnen? Wie im Märchen scheint alles möglich bis zur letzten Zeile, die die Verneigung des Herrschenden in einen Mord münden lässt. So schlicht wie einschneidend steht im Gedicht, wie es ist, unter den Augen einer totalitär agierenden Macht zu leben, dass man Todesangst davor haben muss, allein ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Der Stadtkönig läßt sich seine Schwächen nicht anmerken, wenn er torkelt, meint man er verneigt sich, aber er verneigt sich und tötet.“
Herta Müller, die als Teil einer deutschsprachigen Minderheit in Rumänien geboren wurde und in den achtziger Jahren nach mehreren Todesdrohungen vor der Diktatur Ceausceşcus in die BRD floh, hat mit ihren Büchern diese Todesangst dem König vor Augen gehalten und erhält den Nobelpreis für Literatur. Das ist wundervoll.

9. Oktober 2009 12:58










Kerstin Preiwuß

Brennstoff

Unser Haus ist von Geistern bewohnt, sage ich zu Hanna, aber sie schickt mich nur wieder nach Holz. Das ist ein längerer Weg, zum Holz und zurück, Hanna weiß das, ich habe es ihr schon oft gesagt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, so steht sie oft in der Küche, nimmt diesen Satz in den Mund und lutscht an ihm wie an einer Kirsche. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll mit all dem Holz, schon starrt es aus seinen Klaftern verschlagen nach mir, aber kein Tag gleicht dem anderen, sagt Hanna dann, wenn ich die vielen Mieten erwähne, die ich geschlagen habe, einmauern könnte man einen damit, aber es gibt auch eine andere Wärme, wenn es verbrennt.
Unser Haus ist von Geistern bewohnt, sage ich zu mir, und bin schon auf dem Weg zum Holz. Hanna ist ein Mutterkind, ein Muttertier, sagt sie selbst. Mitunter spricht sie unsere Kinder an wie jemanden, auf den man zählt. Den man erzählen muss, dann ist er in der Welt: Erst kam der Älteste, mit Schmerzen, dann kam die Mittlere, mir zur Hilfe, und zum Schluss der Jüngste, wie nebenbei. Wuchsen alle drei ganz regelmäßig heran, erst ging der Älteste zur Schule, dann ging die Mittlere ins Internat und unser Jüngster lernte aus. Flogen schließlich alle aus dem Haus: den Ältesten hat es in die Hauptstadt gezogen, die Mittlere an die Küste verschlagen, den Jüngsten in den Betrieb im Nachbarort. Ob man seine Kinder gut erzogen hat, erkennt man daran, dass sie sich in der Fremde bewähren, sagt Hanna immer dann, wenn sie ans Ende ihrer Aufzählung gelangt. Ich habe meine Kinder gut erzogen, den Ältesten mit Schmerzen, die Mittlere mir zur Hilfe und den Jüngsten nebenbei.
Unser Haus ist von Geistern bewohnt, sage ich zum Holz, wir schlagen doch nicht aus der Art. Dabei splittert es auf unter meinen Hieben und zerfällt zu Scheiten, mit denen ich Hanna und mir einheizen kann. Manche Scheite behalten ihre Augen, die darfst du nicht einmieten, die musst du mit dem Gesicht nach unten in die Kiepe legen, schärft Hanna mir jedes Mal vor dem Holzhacken ein. Die haben etwas gesehen und wir verbrennen sie immer sofort.

27. Juli 2009 13:24










Kerstin Preiwuß

Den Vögeln ergeht es wie den Menschen: sie fangen an zu pendeln. Der Habicht brütet mittlerweile in der Stadt. Weil dort nicht genügend Platz für alle ist, wandern in der Stadt aufgezogene Junghabichte aufs Land aus, um dort ein Jagdrevier zu erobern. Manche Habichte allerdings entscheiden sich für beide Lebensräume. Sie pendeln zwischen Stadt und Land. Ein Habichtmännchen aus einem Hamburger Park sieht man regelmäßig bei Jagdausflügen in Wald und Feld der Umgebung.

8. Juli 2009 15:55










Kerstin Preiwuß

Was ich einmal wie zum ersten Mal sah

Dass das Geräusch niedergehenden Regens und das Geräusch aufkommenden Windes sich gleichen. Dazwischen der Ton der Schwalben.

Spielende Kinder am Teich. Wie sie alle ohne ihre Hosen so aussehen wie Generationen spielender Kinder zuvor. Die Zeit setzt sich mal und schaut ihnen zu.

Bäume am Rand einer Straße: Straßenköter, struppige Wegelagerer, Vagabunden. Angepflanzt im Sinne einer Allee.

Etwas anderes habe ich dagegen gelöscht. Es waren drei schlechte Nachrichten, ein Kind, das ums Leben kam, ein Mann, der seine verstorbene Frau noch im Nachhinein ehelichte und der zur Trauungszeremonie symbolisch die Kirche mit ihrem Hut im Arm betrat, und etwas über die Logik terroristischer Effizienz: nachdem die Bombe explodiert war, eilten viele Menschen den Verletzten zu Hilfe. Dann explodierte die Bombe.

23. Juni 2009 14:57










Kerstin Preiwuß

Statt Tauben

Heute sitzt die erste Taube sehr früh auf dem Schlag und fliegt nicht hinein, obwohl Herr Matuschek weiß, wenn sie hineinflöge, hätte er den Wettflug für sich entschieden. Er beobachtet sie, nimmt sie mit der Flasche aufs Korn und ist schon ganz betrunken. Hält sich dann die Flasche vom Hals und macht es ihr auf dem Erdboden vor, wie man hineinzufliegen hat. Dabei kriecht er und schuppt sich den Bauch auf, na und? Rucke-di-du macht die Taube währenddessen über ihm.
Na warte Liebchen, sagt er noch hitzig dem Erdboden zugewandt und rappelt sich wieder auf, damit du es weißt: Ich reiß dir die Federn aus und stopf dich ins Flugloch zurück. Sagt’s und versucht im gediegenen Seemannsschritt seinem Täubchen näherzukommen, was hier bedeuten soll, die Leiter zum Schlag beim dritten Versuch schon zu ergreifen und sich dann an ihr emporzuklimmen, bis er mit beiden Beinen auf der vorletzten Sprosse zum Halten kommt.
Derweil sein Täubchen gurrt und trippelt ganz aufgeregt auf dem Dachgiebel hin und her, es ist doch ein wenig sonderbar, was heute geschieht, schließlich steckt hier nicht jeder in einem Federhemd und hält sich durch mit Luft gefüllten Röhren auf den Beinen.
Währenddessen kümmert Herr Matuschek sich nicht um die Verkehrung solcher Tatsachen, schließlich hat das hier immer noch ein Wettflug zu sein, den er gewinnen will, was nützt ihm da die Taube auf dem Dach. Hinein soll sie, das muss sie doch verstehen, er macht es ihr mit großer Geste vor, dass sie sich eingeladen fühlen kann, hinein heißt in den Taubenschlag und durch das Einflugloch, heißt –
Dass das Täubchen mit dem Köpfchen ruckt und immer aufgeregter in Bewegung gerät, nur leider in die falsche Richtung, denn anstatt Matuscheks Einladung Folge zu leisten und sich an seinen Handbewegungen entlang geradewegs ins Innere des Daches geleiten zu lassen, nimmt es eher noch Abstand und zieht sich leichtfüßig auf die Mitte des Giebels zurück.
Matuschek ist darüber ganz empört, schließlich ist es immer noch seine Taube, die auf seinem Hausgiebel sitzt, und er hat ja auch noch mehr davon, fast könnte er sich mit ihnen eine Hochzeit ausrichten, bei der dann so viele weiße Tauben aufflögen wie er und seine Braut an Jahren zählten, an gemeinsamen wohlgemerkt. Jetzt aber geht es um die erste heute hier, die schon da ist, aber nicht hinein will, davon wird ihm ganz heiß im Kopf. Die Guten ins Köpfchen, die Schlechten in Töpfchen, sagt er sich auf einmal grinsend laut vor, bevor es ganz nach oben geht aufs Dach und der Taube hinterher.
Flugs erinnert sich diese daran, dass sie nicht nur Trippelfüßchen besitzt, und hebt ins Bodenlose ab, wo mittlerweile auch schon einige ihrer Mitstreiter darauf warten, in den Schlag hineinzukommen, den Weg hinein aber versperrt nun gerade der Matuschek, na und?
Die zweite Taube wäre immer noch die erste gewesen, aber es ist auch noch früh und obendrein darf auch nicht vergessen werden, in welchem Zustand Herr Matuschek schon auf dem Erdboden versucht hat, seinem Täubchen zu zeigen, wie man ordentlich ins Loch zu fliegen hat.

19. Juni 2009 15:25










Kerstin Preiwuß

Wunschloses Verlangen

„Man besitzt nur das, worauf man verzichtet“, denkt die französische Philosophin Simone Weil. Dieser Habseligkeit ginge ein „wunschloses Verlangen“ voraus, das sich selbst genüge. Und weiter: „Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht“.
Dieser Zirkelschluß vom Wissen um den Mangel als Bestandteil der Welt, in der wir leben, zu der Einsicht, daß es menschlich ist, ihn idealistisch zu begreifen, ist uns immanent. Weil unsere Wahrnehmung begrenzt ist, weil es uns also daran mangelt, die Welt anders zu erfahren als in der Flüchtigkeit unseres mit der Zeit (ver)gehenden Lebens, erscheint uns das empfindungslose Universum umso größer. Diese Diskrepanz zwischen der sich nach Grenzenlosigkeit sehnenden menschlichen Existenz und der Grenzenlosigkeit des Universums speist jene Energie, aus der heraus seit Platon Schönheit entsteht – als Mittler zwischen beiden Polen.
„Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht. Darum liegen in aller Schönheit unaufhebbar Widerspruch, Bitterkeit, Abwesenheit“, lautet die Konsequenz des Weilschen Denkens. Sich von den schönen Dingen entfernen, um Schönheit zu erfahren, ist vielleicht eine der fruchtbarsten Paradoxien der Kunst.

30. März 2009 18:47










Kerstin Preiwuß

Immer zu unterscheiden:
Erst kommt die Denkbewegung und dann die Spracharbeit.
Die Denkbewegung muss vor der Spracharbeit einen eigenen Raum einnehmen. Gute Spracharbeit ohne vorhergehende Denkbewegung macht noch keine guten Gedichte.

16. März 2009 10:36










Kerstin Preiwuß

hausieren

in diesem jahr ziehe ich
straßenlang um
 
ist das ein habicht
wispert das dorf
 
ich schnäbel doch nur

9. Februar 2009 20:20










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