Mirko Bonné

Rhyl

„The Greatest Circus on Planet Earth“

Das Meer und der abgegrabene Strand,
die alten Hotels der Promenade, leer,
ausgestorben Spielhallen, Spaßbuden.
Die Wirklichkeit in Rhyl –, elektrisch,
offshore eingespeist in ein von jeher
erloschenes Netz. Das Hohngelächter
der Seemöwen, Untergangsunterhaltung.

*

21. September 2011 10:28










Mirko Bonné

Libellenbrief

Fahrige Fremde, die auftaucht
im Dunst als die Verkörperung
des Dunsts, hat sie, wie ich,
die Jugend versäumt? Lernte
kein Griechisch, aß nicht täglich
einen Apfel, sondern schwirrte.

Der Bewegungen der Pappeln
folgen ihre Manöver. Augen –
Augen – Tauperlen – Tau.
Sieht sie her, wird sie zackig,
Garten ihr Schwebflug, eckig,
o Briefkasten Sonnenfleck.

*

31. August 2011 15:21










Mirko Bonné

Paar mit Uhu

Wir besprachen uns
bei Rotwein und blauem Öl.
Es ging um Worte. Wir blieben
dabei und kamen nicht
darüber hinaus.
Blaues Paar,

jeder für sich
sucht den anderen
am eigenen Bildrand.
Beide wollen den Kreis,
der ausgeht von einem,
einschließt Betrachter,
mündet in das Auge
dessen, der liebt.

Als ich hinausging,
hast du hinter dem Fenster
ein paar feurige Augen gemalt,
und hier, auf dem Feldweg,
keinen Steinwurf entfernt,
rief der Uhu, weise
meinte er uns.

*

18. August 2011 20:32










Mirko Bonné

Darg

Du sitzt im Bett und liest
in lautem Französisch vor,
was Ferdinand Hodler 1888
am Ufer des Genfer Sees malte.

Im Radio singen Tote vom Leben
in Amherst, am Connecticut River,
dann meldet eine Radiosprecherin
das mitternächtliche Hochwasser.

Ich schlage die Dardanellen nach
– und finde die niederdeutsche
Entsprechung für Moorgrund,
die torfartige Schicht Darg.

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3. August 2011 20:23










Mirko Bonné

Meditation am Kalksee

Meinetwegen: Wir träumen.
Nur wenn ich mir vorstelle,
die begriffsstutzigen Fische
tief dort unten im Wasser.

Ein französischer Denker
kannte sie schon 1637, unter
Papst Urban VIII., und mehr noch.
Er zählte sie. Und sie schwammen.

Weder gab es elektrisches Licht
noch künstlichen Schnee. Nach ihm
gibt es nur Illusionen, sonst nichts,
nicht einmal Brot, wozu auch.

Keiner hat wirklich Hände,
trägt eine Brille oder liebt es,
mit einer Frau, im Sommerkleid,
durch den leeren Raum zu gehen.

*

2. August 2011 18:38










Mirko Bonné

Ein Sommersonntag

1972, im Freibad Marzoll,
Bad Reichenhall. Ich stand,
ein siebenjähriges Hemd,
hoch oben im Föhnwind
auf der Messerklinge des
Siebeneinhalbmetterbretts
und blickte über die Grenze,
bis Großgmain in Österreich.

„Spring!“, riefen mein Bruder
und Onkel Walter. „Spring!“,
rief die ganze hellblaue Welt
weit unten, wo alles gut war.

Bloß ein sonnenverbrannter
Alter mit faltigem Brustkorb,
weißem Spinnennetzbart
und Mütze auf der Glatze
rief mir zu: „Spring nicht!
Bleib oben! Was willst du
denn hier unten?“ Danke,
lieber Günter Eich, danke.

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2. August 2011 09:47










Mirko Bonné

Ruttopuisto

Aus einem verglasten Zimmer
sah sie hinunter auf Helsinki
und packte Taschen und Koffer –
wohin, wenn nicht weit weg.

Sie strich durch die kahle Stadt,
wartete auf dem Bahnsteig
und hörte die Züge kommen,
aber alle brausten vorbei.

So ging der Herbst dahin.
Sie schlief in einem Park
und beobachtete Schatten,
Schatten in den Pappeln.

Es mussten die Toten sein
der großen Pest von 1710.
Am Tag wärmten sie sich auf
an Buden und Karussells.

Nachts legten sie sich zu ihr.
Mädchen suchten Make-up
und stöberten in ihrem Gepäck,
ein toter Junge las ihre Hefte.

Irgendwann war der Winter da,
es schneite im Ruttopuisto.
Nur weg, sagte sie sich müde,
und so zog sie mit ihnen mit.

Eines Morgens endlich kam er,
der Zug ins eisweiße Land.
Sie fuhren, wild schlug ihr Herz,
– wenn nicht weit weg, wohin.

Für Jouni Inkala

*

18. Juli 2011 15:40










Mirko Bonné

Anif

Schön, im Waldmeistergeruch
zu gehen, durch Nieselregen
nach Anif. Die Erinnerungen,

der grüne Fluss. Kinderzeit
blüht mir auf dem Feldweg
mit dem Hasen, der da hockt,

Schaulust, aber eine stille,
Zeichen, Geraschel, Sterne,
ruhig, dass keiner erschrickt.

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21. Juni 2011 11:33










Mirko Bonné

Grüne Ziege

Ein alter Garten voll Giersch,
mitunter denke ich und fürchte,
das wäre ein Bild für ein Leben.
Dann renne ich hinaus irgendwo
oder stürze in einen hellen Laden,
kaufe was und werf es in Gedanken
gleich weg. Das Dreiblatt, der Giersch
wächst mir durch den Tag. Misstrauen
wuchert, von Abscheu getriebenes,
endlos vergebliches Ausbessern.
Komm, denke ich, Zimmerholler,
verrate mir also, was du liebst.
Stickstoff habe ich reichlich,
Ziegenfuß, du grüne Geiß.

Du hast keine Vergangenheit.
Weißt nicht einmal vom Entzücken
meiner Großmutter, sah sie die Wiese
erstickt vom Baumtropf, dem Schettele.
Sie bereitete aus den Blättern Salat,
kochte gegen den Rheumatismus
die Stängel. Blüten trocknete sie,
Bodenschatz, sagte sie zärtlich,
weiße Tränen in grünen Augen.
Ich durchtrenne Triebe, kämme
allen Giersch und seine Namen
aus dem Gedächtnis, dem Gras.
Still liege ich da und habe Angst,
für ein Leben wäre das ein Bild.

*

10. Juni 2011 10:49










Mirko Bonné

Weberknecht

Auf haarfeinen acht Leitern
steigt ein silbernes Auge
durch Lichtvierecke,
da, es blinzelt –

Wald. Alles Messer,
Nadeln endlos. Worauf
dieser Augendesperado
auf acht Klingen steigt.

Er hat Dornenwimpern.
Bebt, wenn im Weiher
Forellen trauern, still
im Wasser weinen,

oder wenn unfassbar
Blätter zittern, Pappeln
im erfinderischen Wind –
einmal so erfunden sein.

So kommt er auf dich zu,
du fahle Karkasse, äugt,
nimmt dich in den Blick
und deinen mit sich fort.

Für Günter Herburger

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28. Mai 2011 17:36