Mirko Bonné

Voile

Dein Segel fährt durch das Exil,
wie eine Sonne über Kiesel zieht.
Sie geht unter, und das Segel sinkt.

Schon Nacht. Schwarzes Segel sinkt
durch das Exil, fällt bis auf den Grund,
flatternd weht es durch die Dunkelheit.

Und jeder Fisch, ein jeder dunkelgrün
Neun-, Acht- oder Siebenauge, blinkt,
leuchtet dein Segel unter den Sand.

*

13. Februar 2021 15:26










Mirko Bonné

Dieser Weg, wohin

Dieser Weg, wohin es auch
geht, er führt dich nicht zu
dir. Sondern mit sich, mit
davon, weg, hin zu etwas
Neuem. Weg. Weder zurück
in dein o-förmiges Kindheits-
wäldchen noch zurück auf
die Schwalbenspur. Nicht
auf die Hunderunde und nicht
an den Regenstadtrand. Schluss
mit der lieblosen Tristesse, vorbei,
Trauer um das bisschen Zartgefühl.
Orte lieber Orte, unerforscht außer-
halb deiner, ungeahnt innen. Sei
zeitfern du, bleib unterwegs,
unbändig ansprechbar.
Der Weg führt dich zu den
Anderen, in eine neue Weite,
wer weiß, wohin es geht, wenn
du dich weder finden musst
noch dich verlieren.

*

27. Januar 2021 00:45










Mirko Bonné

Ihr letzter Tag, Herr Präsident

Ihr letzter Tag, Herr Präsident, bricht an.
Bitte verlassen Sie das Weiße Haus,
Sie blinder, irrer, mieser alter Mann,
Und schaffen Sie ihr dummes Zeug hinaus
Und weg in Ihre Sonne. Nehmen Sie
Die Paladine mit, mit die Claqueure,
Die scheinbar wahre Scheindemokratie.
Ich höre Stimmen und die Tiere, höre
Die Sie so lange stützten, so elendig
Gekaufte Meute. Bäume twittern Tweets:
Schluss! Ende der Verelendung! Lebendig
Entgehen wir seiner Verbalmiliz.
Von Ihnen, fetter Clown des Fakes,
Lernt die kaputte Welt: Bleib unterwegs.

*

19. Januar 2021 03:20










Mirko Bonné

Gedicht

ich nenne mich du weil der Abstand
so vergeht zwischen uns wie Haut
an Haut wir sind nicht
zu unterscheiden zu trennen eins
und das Andere die Grenze ist
die Verletzung der Übergang
eine offene Wunde du nennst mich
ich wer von uns beiden sagt
hier hast du ein Messer
mach meinen Schnitt.

BARBARA KÖHLER
11. April 1959 – 8. Januar 2021

*

11. Januar 2021 15:06










Mirko Bonné

Für Lucile

Halt du die fürchterlich schwarzen
Flecken zwischen den Knospen
der Fensterorchidee nicht für
Nacht, oder für das Dunkel
in deinen Gedanken. Hör
die weißen Tasten. Und
denk an das Kind, das
da im Zimmerhalblicht
des Dezembervormittags
Klavier spielt. Es spielt weiter,
auch wenn du die Vorhänge schließt.

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28. Dezember 2020 22:32










Mirko Bonné

Stehbierhalle

Abends in der Stehbierhalle, Trakl redete
über Goethe im Gegensatz zu Jesus,
Mörike. Sprach ihm alle Höhe ab,
dafür ungemein erstaunliche Weite zu,
gleiche so dem Weibe. Sei ganz oberflächlich,
bleibe überall an der Oberfläche, sei herzlos
und seine Art Lüge teuflisch. Er sei kein
echter Dichter, gebe sich nicht daran
wie Mörike, wie Liliencron, der sich
verblute an seinen Stoffen. Goethe habe
nie, auch nicht als junger Mensch, neurasthenisch
gedichtet, Liliencron schon. Alles Gedichtemachen sei
nichts. Wozu Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung,
wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte
aus dem Evangelium hätten mehr Leben
und Welt und Menschenkenntnis
als alle diese Gedichte, „selig
sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist
das Himmelreich“, daneben seien die Dichter so
überflüssig, so dumm. Alle seien sie eitel, und
Eitelkeit sei widerlich. Die Wahrhaftigkeit
billige er Goethe zu. Dessen Größe sei,
dass er sie trotz allem habe. Mitteilen
könne man sich auch nicht mit Gedichten.
Man könne sich überhaupt nicht mitteilen. Alles
Ausspruch. Goethe sei oft schamlos, voll Ausspruch,
voll Bekenntnis, und gebe sich doch der Sinnlichkeit hin.

*

9. Dezember 2020 15:13










Mirko Bonné

Down and out in Arles

Was Vincent hier malte – die Ruinen
von Montmajour, den Weg der Sterne
über der Rhône und das gestrandete
Wrack der Arena, die Cafés, die Leere
schwarzer Zimmer. Heißer Wind rannte
vor dem Gewitter her. Die Wellentiraden.
Baumwipfelgeheul. Rotes Licht schoss
durch den Strom. Die Hitze! Das Fiasko
der Hundstage in Arles. 13 Jahrzehnte
später stand ich auf einer Hotelterrasse
wie vor einer Nachtrede von der Mairie.
Sonnenblumen. Sonnenblumen. Efeu.
Berggarten
– seine Lieblinge. Tant pis.

In einem dieser lichtlosen Zimmer lagen
wir im Streit umeinander die halbe Nacht,
zwischen uns den schwarzen Hund, der mir
in allem wilden Gleißen nachlief durch Arles.
Seit dem frühen Morgen war ich nicht allein.
Du schon. Mit den Starwolken an der Rhône.
Dem Fenster über der Buchhandlung am Kai,
das deins gewesen war. Höfen. La Roquette.
Dem Markt. Der Hitze! Irismauern. Nur mich
sah mein dunkler Köter und ich nur ihn, nicht
dich, als junge Frau im blauen Blütenschnee,
und später, als du wiederkamst. Vincent war
nie hier, und ich war blind. Liebling – désolé.

*

21. November 2020 01:50










Mirko Bonné

Trauer

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.

GUNTRAM VESPER
28. Mai 1941 – 22. Oktober 2020

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22. Oktober 2020 10:48










Mirko Bonné

Salamanca

Ist sie erregt, spreizt sie
das Stirngefieder ab. Sie fliegt
durch ein Fenster, das zersplittert,
aber spürt nichts. Harpyie! Harpyie!
rufe ich. Du sollst nicht nur zerstören.
Sie hört nicht. Als letzter Punkt an ihr
wird auch ihr Auge wild. Sie fängt sich
einen Terrier, eine Balkontempelkatze,
zerhackt, zerpflückt und verdrückt sie
in ihrem Lieblingsforsythiengebüsch
an der Norweger Straße. Einmal,
da jagte sie einer feindlichen
S-Bahn nach. Sie schreit
nur an Nachmittagen. Sie trinkt
wie Kinder auch mit den Augen. Sie lacht
Harpyie! Harpyie! Aber sie hört nicht. Krallen-
füße voran, stürzt sie in Platanen. Krähen
flüchten stumm verstört. Sie kann sehr
sanft sein. Es gibt z. B. ein Foto,
da sitzt sie auf meiner Schulter
und legt mir lächelnd das Schnabel-
haupt auf den Scheitel. Aus Klanggründen
unterstützt sie die Wolverhampton Wanderers.
Salamanca, sage ich, Salamanca, beruhige dich,
keiner außer mir weiß ja, dass du unsterblich bist.
Ihre Hosen sind spätmittelalterliches Trikot. Feinde
ihrer Freiheit überleben zwei Minuten. Ich streichle sie,
ich füttere sie, ich flüstere ihr Keats’ Oden ins Ohr.
Sie kennt keine Ruhe, weder Schlaf noch Traum
und keine Liebe, nur die wildeste Erregung.

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14. Oktober 2020 01:56










Mirko Bonné

Eine Amsel

Da ist was im Gesang einer Amsel
es ist Frühling, du wirst wach

du liegst nachts da und denkst nach
das Fenster steht offen – da ist was

wovon der Vogel singt
und du denkst daran was du aufgeben musst

da ist was in dir, das ist leer und in das strömt
das Singen dieser Amsel

Rutger Kopland

(Aus dem Niederländischen von Christiane Burckhardt und Mirko Bonné)

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20. September 2020 00:46