Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (179)

10. April 2016, ein Sonntag

Ein Tag in Kokobunji, einem Stadtteil von Tokio, wo Jiro Taniguchi wohnt. Seine genaue Adresse kenne ich nicht. Mit etwas Glück/Pech fuhr er vorhin mit dem Fahrrad an mir vorbei. Als ich vor dreißig Jahren die Lebensstationen des damals sehr verehrten Hermann Hesse aufsuchte, fühlte ich mich immer wieder „durchweht von historischem Hauch“: Hier wuchs er auf, hier litt er im Internat, hier goss er Blumen. Das wünschte ich mir auch von meinem Besuch in Kokobunji. Aber das geschieht nicht. Meine Romantik ist Attitüde. Vor meine Blicke auf die Stadt schieben sich oft Erinnerungen an Taniguchis Zeichnungen. Ich errechne die Algorithmen seiner Blick-Verarbeitung. An vielen Stellen filme ich eine mitgebrachte Miniaturfigur, einen rot-blau gekleideten älteren Herrn mit übereinander geschlagenen Beinen, der eine Zeitung liest. Das Filmchen müsste Der lesende Mann heißen und in Bezug zu Taniguchis Manga Der spazierende Mann stehen.

Ich esse Teigtaschen in einem dieser pragmatischen Küchen, in denen Kunden an einem langen schmalen Tisch sitzen, jeder an einem Tischabschnitt in der Größe eines DinA4-Blatts, durch kleine Paravents abgeschirmt Gästen nebenan und gegenüber, versorgt von fürsorglichen Kellnerinnen, die kein Trinkgeld nehmen, da man bereits beim Eingang sein Essen im Automaten bestellt und bezahlt hat.

Zwei Trainings bei Kanazawa-Shihan und dem Doshu, also Moriteru Ueshiba, dem Enkel vom O-Sensei. Die Matte ist knüppelvoll. Ranghohe Partner, frei von Allüren.

10. April 2017 09:15