Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (181)

12. April 2016, ein Dienstag

Heute 1:45 Uhr hoch, nach einer Stunde Schlaf. Um 2:20 Uhr fährt uns Yutaka zur berühmten Fischauktion. Um 3 Uhr muss man dort sein, um einen der begehrten Zuschauerplätze zu bekommen. Da wir keinen Parkplatz finden, stehen wir um 3:20 Uhr am Gatter und werden fortgewinkt: zu spät. Yutaka, der beflissenste aller Gastgeber, tröstet uns mit einem Fisch-Frühstück im Fischmarktviertel. Ich wusste gar nicht, wie viel Geschmack roher Fisch haben kann. Mit dem Bauch voll rohen Fisches blicke ich vom Beifahrersitz über bewegungsunscharfe Geländer des Highways und über den Edo-Fluss auf die Tokioter Skyline. Darüber zieht morgendämmernde Sonne Farbschleier. 6 Uhr wieder daheim.

Mittags in die Stadt. Diskrete Stille in den U-Bahnen. Man liest, spielt auf Smartphones, spricht gedämpft, schläft. So anders als im Berliner Aggressionsstau. Japanische Schulschönheiten: zart und delikat, zwischen Fetischfieber und Frömmigkeit.

Jiro Taniguchi geht nach eigener Aussage gern im Kichijoji-Park spazieren. Ich also auch. Die Sitzgelegenheiten sind so diskret separiert wie in Speiselokalen, hier meist durch schmales Buschwerk. Aber Taniguchi sitzt nicht, wo ich sitze. Sitzt auch nicht in einem jeder Ruderboote in klassischem Ruderboot-Format, in denen so viele Angestellte ihren Feierabend absolvieren. Sitzt auch nicht in einem jener Tretboote in Form schwimmender Schwäne. Sitzt auch nicht bei jenen Menschen auf den Decken, die so manierlich und sittsam und sauber hier sitzen und in Chören staunen, wenn ein Teilnehmer Staunenswertes äußert. Der spazierende Taniguchi sitzt nicht. Ich werde ihn nicht finden. Ich suche ihn ja auch nicht wirklich. Ich tu nur so. Ich spiele den suchenden Mann.

Imposant sind ja Leute wie jener junge Mann aus Amerika, einem unserer Nachbarn in den Container-Appartements von Yutaka: Er wohnt seit zwei Wochen dort und verließ es bislang nur für einen Ausflug ins Elektronikviertel. Auf der Rückfahrt war er beim Aussteigen aus der U-Bahn so sehr in sein Smartphone vertieft, dass er in den Spalt der Bahnsteinkante trat und mit dem Arm aufschlug (Smartphone gerettet!). Seither verlässt er sein Zimmer noch nicht mal zum Essen. Per Smartphone ruft er Yutaka an: „I’m hungry!“ Yutaka bringt dann Essen.

Yutaka lädt mich abends zum Essen, als ich vom Aikido-Training (Leitung: Osawa-Shihan) zurückkomme. Yutaka stellt mich seiner Frau und seinem autistischen Sohn vor. Sie spricht kein Englisch, er spricht gar nicht. Danach verbringe ich eine dreiviertel Stunde in Yutakas neuem monströsen Massage-Sessel, der jeden Körperteil walkt. Es ist 23 Uhr. In zwei Stunden wollen wir zum zweiten Mal zur Fisch-Auktion aufbrechen.

12. April 2017 09:28