Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (198)

8. Mai 2016, ein Sonntag (Muttertag)

Erwacht mit Kopfweh und dichten Nebenhöhlen. Erhöhte Kopflagerung, dann nach kurzer Lektüre zurückgesunken in traumhaften Schlummer bis halb zehn. Im Traum: Blick eine Freitreppe herab auf einen Kiosk, in dem ich den Namen „Kiel“ entzifferte, mich umsah und merkte, dass ich mich wohl eben dort befände, in Kiel, am Hafen, irgendwo in der Bahnhofsgegend. In den Auslagen entdeckte ich dann die Schriftzüge „Lübeck“ und sogar „Lensahn“. Dann huschte ein Mann mit blondem Zopf und Schürze aus dem Kiosk. Er trug große, graue Mülltüten heraus, querte schräg die Gasse und war weg; ich glaubte den Aikidoka J. erkannt zu haben und erschrak: Wie?!, sogar der arbeitslose J. arbeitet?!, und das auch noch in meiner Heimatstadt?! Ich schaute auf die Uhr: 19 Uhr, ich hatte den ganzen Sonntag verpennt. So erwachte ich also um halb zehn morgens.

Am Freitag erfolgte ganztätig die Hochzeit von T. mit seiner N., er ein Bräutling in Stresemann-Hose mit Sammet-Jackett, sie weiß verpuppt, er sehr redeselig, sie sehr still – die Braut und ich wechselten zwei Sätze, zur Begrüßung: „Schön, dass ihr da seid“, zum Abschied: „Schön, dass ihr da wart.“ Dazwischen lehrte man uns irisch tanzen, ein lustiges Hopsen mit reuelosem Schwitzen. Ich hatte mir fest vorgenommen, meine Gastrolle in Anstand und Heiterkeit zu bewältigen, nachdem L. mir am Folgetag des Junggesellenabschieds gesteckt hatte, ich hätte „mich was schämen“ sollen. Was schämen sollen!? Ich dachte bis dahin, ich sei das Sprachrohr für die Geiseln dieser Schnurren- Tortur gewesen und war nun ganz perplex. Per Selbstschutzreflex verbuchte die Bemerkung sofort als Irrtum, dennoch war ich auf der Hochzeit darauf bedacht, keinerlei Angriffsfläche zu bieten, denn ich will von allen geliebt werden, was immer wieder dazu führt, dass ich so sehr geliebt sein will, dass ich Liebesbeweise erwarte und bei Ausbleiben den Liebesbeweismangel auszugleichen suche, indem ich garstige Scherze mache, für die man sich was schämen sollte und die dem Geschädigten erhöhte Liebesbeweise abnötigen – natürlich eine heillose Strategie.

8. Mai 2017 12:01