Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (205)

25. Mai 2016, ein Mittwoch

Gestern traf ich Jungendfreund H., mit dem ich mich vor einem Jahr überworfen hatte, als er sich so fatal in die Kitty-Beziehung eingemischt und deren Zerfall zumindest beschleunigt hatte. Er habe, gab er nach einigem Hin und Her drein, damals den Effekt nicht beabsichtigt. (Danke, H., das wäre ja noch schöner!) Sonst ging es gemütlich, man hat einander freundlich geupdatet. Ein Auftakt zu einer neuen H. -Phase, deren Dauer sehr ungewiss ist.

Heute Abend besuchte ich Megs neues Projekt: „City Lights – a continous gathering #4“. Mit Unbehagen eingefahren in die mir stets unbehaglich gebliebene Tanzwelt mit den Meg-Menschen. Eilig einige von ihnen begrüßt und gedrückt, wie man’s so vermeintlich macht. Neben mir zu sitzen kam der drittelwüchsige Sohn der Tänzerin Amy, den ich das letzte Mal vor über einem Jahr gesehen hatte. Wir warteten auf Showbeginn und plauderten über Fußball, als wären seit damals keine zehn Minuten vergangen.
Überall die Tanzleute, auf der Bühne, auf den Rängen, denn die Gäste von Tanz-Performances sind ja zum Gutteil selbst Tänzer. Die Tanzwelt ist ein geschlossenes System, in dem nur die Rollen wechseln: heute Gastgeber, morgen Gast, aber oft sind die Rollen nicht strikt getrennt, und schon gar nicht bei diesem Stück, das die „fortlaufende Versammlung“ zelebriert. Als es losging, platzierten sich also die Schauspieler im Publikum und bombardierten es mit indiskreten Fragen. Man war aufgerufen und genötigt, Handzeichen zu geben, aufzustehen, Farbe zu bekennen (schamrot). Exhibitionismus ist Volkssport unter Tänzern, das ganze Theater ist Bühne für alle. Wer wirklich nur Zuschauer sein will, gerät dann ganz schnell ins Rampenlicht. Ich drückte mich halbherzig, bis Meg den Saal verließ und ihre letzte Frage hineinschleuderte: Ob es hier Leute gebe, deren Ex-Lover im Raum seien. Da hob ich den Arm.
Direkt nach der Vorstellung geflohen. Zuviel Sand, der vom Boden aufgewirbelt wird, mitsamt der ungestillten Bewunderung für diesen kleinen Prinzen, dessen Bewegungen und Erscheinung so fremdartig und weltenfern sind. Es ist da etwas, das mich tief anrührt und in mir ein Weinen auslöst. Kein Weinen, das bis zu den Augen oder der Außenhaut durchdränge, aber doch ein Weinen im Innern. Was für eine Geschichte habe ich da erlebt mit dieser Meg, deren Kunst so seltsam erhaben, frei und radikal ist, jedes Netz unter sich zerreißt, jeden Rückhalt aufgibt und auf einem Niveau operiert, das mir unerreichbar ist.

Ich mache eben andere Sachen. Ich mache gerade meine Steuererklärung.

25. Mai 2017 10:48