Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (201)

11. Mai 2016, ein Mittwoch

Bis gegen halb drei Uhr nachts verbrachte ich damit, das Japan-Material zu sichten in der Hoffnung, einen roten Faden zu finden, denn meistens handelt es sich um Aufnahmen der immergleichen Figur, des lesenden Mannes, vor wechselnden Hintergründen. Nicht berauschend, aber auch nicht katastrophal, wenn der Rhtythmus von Schärfe und gezielter Unschärfe stimmt. Heute morgen durchforstete ich auf dem Balkon Ovids Metamorphosen nach brauchbaren szenischen Stellen und las Belphegor, dieses irgendwie zähe und dann wieder ungestüme Werk. Sehr bald warf ich mich, wie von einer Kartätsche heißer Trauben getroffen, aufs Bett.

Dort träumte ich, wohl irgendwo in Japan zu sein und mit dem Auto aus dem Stadtkern in einen Vorort zu fahren, von wo wir – wer „wir“ waren, erinnere ich nicht – zu einem Sportzentrum weiterfahren wollten, doch bis dahin war es noch ein gutes Stück Wegs. Plötzlich wallte Sorge auf, wie der Weg zu finden sei, und alsbald erkundigte ich mich eifrig, allzu eifrig, bei jungen Damen in Röcken und erforschte deren Landkarten, womit ich sie geradenach verschreckte und verscheuchte. Damit aber stieg wiederum die Sorge, wie, sofern ich in den Stadtkern zurückkehrte, das Sportzentrum rechtzeitig erreichen bzw. überhaupt finden solle …

… aber gelten diese vormittäglichen Halbschlafträume überhaupt? Wie das wohl wird, wenn der Schlagbaum zwischen Wachen und Schlafen sich hebt, und ich einfahre ins dämmernde Niemandsland, in dem Abschweifung, Gedankenspiel und Traum wohnen, eine Zone, die, je weiter ich vordringe, immer breiter und breiter wird.

11. Mai 2017 08:43