Hendrik Rost

Die Luft entweicht

Das Halbfinale der EM sehe ich mir allein an, die Kinder schlafen ermattet nebenan, ihre Mutter liegt fiebernd ebenfalls im Bett, Kimmich steht ganz weit außen und ich spüre meinen Herzschlag im Hals, auch ein Kratzen im Rachen, Salbeitee. Den Tag über hat es nicht geregnet, um heute wieder zu schütten. Mir fehlt noch Teil VI der Sonette aus der Reihe „Fahrradcharismatiker“, mit denen ich die Eindrücke aus drei strammen Jahren des Fahrradpendelns in Hamburg verarbeite. Da, wieder eine sehenswerte Ballstafette. Ich bleibe zuhause und kümmere mich. Ein Tag im Home Office, merke ich, ist wie eine Woche im Büro: Kinder zur Schule begleiten, einkaufen, kochen, arbeiten, Kleinkind trösten, arbeiten, Kleinkind füttern, Kimmich auf Özil, Kinder von der Schule holen, Fragen beantworten (wenn findest du besser, Matthäus oder Messi?), essen, arbeiten, sich reinsteigern wegen Schweinsteiger, Dateien retten, die Kleinkind mit einem Patschen auf die Tastatur in den Orbit gejagt hat, Teil VI planen im Hinterkopf („dies sind keine Klagen, sondern das Glück, in der Ewigkeit nur eine kurze Strecke ableisten zu müssen“) … Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, stelle den Fernseher auf leise und bereite Frikadellen in der Küche für den nächsten Tag. Sie simmern herrlich im heißen Fett, plötzlich steht es still und leise 0:2 und mir fällt ein, dass Teil VI aus jeweils zwei Zeilen der ersten Teile bestehen wird plus zwei zusätzlichen Zeilen, dem schließenden Couplet. Kleinkind stolpert, Boateng patzt. Mit dem Ausscheiden der Mannschaft sind die Halsschmerzen verschwunden. Ach übrigens, wer nicht findet, dass es vermessen ist, immer nur auf Leistung und Größe zu schielen, der leiste sich was und werde groß. Kinder wachen auf, das Fieber sinkt. Und dann fängt die Arbeit wieder, endlich an.

8. Juli 2016 19:50