Mathias Jeschke

DIE TOTEN von William Carpenter

Unverzeihlich, diese Vergesslichkeit der Toten.
Sie würden nackt herumlaufen, wenn wir sie ließen, nicht
wegen irgendeiner bestimmten Unschuld, sie hätten
einfach vergessen, wo sie aus ihren Kleidern gestiegen waren.
Sie wollen, dass wir uns erinnern.
Das ist alles, was wir für sie tun können.
Was hätten sie denn davon, wenn wir essen, Sex haben,
am Strand herumliegen?
Sie wollen, dass wir uns hinsetzen und uns erinnern.
Sie sind froh, wenn wir dasitzen und über die Vergangenheit nachdenken.
Darin sind sie enthalten.
Meist sind sie die Stars der Szenerie.
Die Nebenrollen sind verblasst, die Details.
Sie wollen, dass wir uns an die italienische Küste erinnern,
wenn man von Venedig kommt,
die Bar, in der uns das Tintenfischsoufflé serviert wurde,
die Fahrt hinauf nach Urbino im Fiat 500.
Die Toten sind nicht nur lebendig,
sie sitzen am Steuer, sie fahren und essen.
Sie haben ein kleines umbrisches Restaurant entdeckt,
das nichts anzubieten hat außer Schinken und Käse.
Zu allem anderen sind sie strenge Vegetarier.
Sie picken den dünn geschnittenen Schinken heraus
und geben in uns, den Lebenden.
Sie sehen in uns Kannibalen oder Schweine.
Sie finden ihren Weg die steile Straße hinauf
zum Hotel Raffaello.
Sie feilschen mit dem Nachtwächter.
Die Toten sind gewieft in Finanzangelegenheiten,
weil sie in die Zukunft blicken können.
Sie wollen ein Zimmer mit Blick auf den Dogenpalast.
Sie führen uns auf den Balkon hinaus.
Fünf Stockwerke unter uns, da schreit eine Katze.
Die Toten haben keine Höhenangst.
Sie können im Mondlicht schwimmen, ohne zu ertrinken
oder verloren zu gehen.
Sie wollen, dass wir uns lieben, während wir noch angekleidet sind.
Sie sagen: „Das ist ein Notfall!“
Münzen aus unseren Taschen fallen
durch das Eisengitter.
Die Toten haben diese heftigen Orgasmen
in denen sie völlig verschwinden.
Am Morgen kommen sie von dort, wo sie waren,
hungrig zurück.
Sie wollen, dass wir ihnen ein paar von diesen kleinen Brötchen bringen –
Pannini, eine Frucht,
irgendetwas, eine Banane.
Sie hamstern, sie stecken sich ein Brötchen in die Tasche.
Sie wissen nicht, woher sie demnächst etwas zu essen bekommen werden.
Sie interessieren sich für Piero della Francesca.
Seine Figuren haben sich selbst vergessen.
Man kann durch ihre Körper hindurchsehen.
Hinter ihnen befinden sich Beispiele von Bauwerken und Bäumen.
Sie interessieren sich für Darstellungen von Christus als Kind,
weil Er von Anfang an verurteilt war,
davon kannst du erzählen wegen des Zweigs einer roten Koralle
um Seinen Nacken.
Die Toten starren aus den breiten Fenstern
und vergeben Machiavelli, Hemingway und Ezra Pound.
Weil sie kein Gedächtnis haben, können sie alles vergeben,
sogar während es gerade geschieht.
Deshalb wissen wir, dass wir bei ihnen sind.
Wir können fühlen, dass sie vergessen.
Wir werden im Auto aus Urbino hinausfahren.
Es wird regnen.
Sie vergessen den Regen.
Wir halten in einem hügeligen Städtchen
namens Sansepolcro.
Sie vergessen den Namen schon,
während wir ihn auf dem kleinen Schild lesen.
Wir werden nach Pieros Auferstehung suchen.
Christus wird ein erwachsener Mann sein.
Er wird ein Banner tragen.
Sein Fuß wird auf der Ecke des Grabes stehen.
Sie werden es vergessen.
Die Soldaten waren betrunken und schieden aus.
Sie sind Römer, in ihren Träumen geht es um Frauen.
Er hat ihnen bereits vergeben.
Alles, was Er will, ist mit Seinen Freunden über Land zu gehen.
Die Toten sind ein bisschen scheu und tolpatschig im Bett.
Sie wollen, dass wir etwas tun, trauen sich aber nicht, zu fragen.
Sie können nicht schlafen, erzählen von Alpträumen.
Wenn wir sie berühren, sprechen sie davon, sich im Regen aufzulösen.
Sie glauben schon lang nicht mehr an sich selbst.
Vergiss es, sagen sie. Das ist es nicht wert.
Sie schließen ihre Augen.
Sie bestehen darauf, im Schlaf zu sprechen.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)

18. November 2015 00:08