Mathias Jeschke

FREIHAFEN von William Carpenter

Ich stehe um Mitternacht vorm L.L. Bean, rauche eine
Zigarre und spüre die sachten Paddelschläge der Kanus.
Keine Sterne über mir, keine Wolken, kein Mond, nur
der Wind. Er treibt die letzten Ulmen in einen Traum
vom 19. Jahrhundert, als sie noch grün und gesund
waren. Auch die Kleinstadt träumt. Alte Paare träumen
dicht beieinander von Sex. Eltern träumen von viel Geld.
Kinder träumen, sie werden von Spielzeugen angegriffen.
Ganz anders läufts im L.L. Bean. Nächtliche Käufer
durchstreifen die erleuchtete Wildnis. Ein Mann
in kompletter Watbekleidung testet eine Fliegenrute.
Typen in Daunenparkas mit Tarnmuster fahren
auf Heimtrainern, als nähmen sie teil an einem Rennen
für stillstehende Gegenstände. Und jetzt kommt ein Paar
mit großer, grüner Tasche, darauf ein Hirsch und Bären-
Motiv, voller Einkäufe, aber sie wirken nicht glücklich.
Etwas ging schief im Laden. Der Mann ist mürrisch,
die Frau bekümmert. Sie fangen an, ihre Lippen
zu bewegen, um zu sprechen, doch es kommt nichts raus.
Taube sind sie, versuchen mit ihren Händen zu streiten, in
Gebärdensprache schnappen ihre Worte nach einander wie
Fuchsköpfe, so heftig, dass sie einander fast erwischen,
nicht aus ihrer eigenen Wut, sondern aus dem unvorstellbaren
Ärger der Hände darüber, nicht sprechen zu können – ich denke
dabei an meinen eigenen Körper in seinem Hauthandschuh –
stummer Bauch und stumme Arme und Beine, was kann er
sagen, was kann er verstehen? Dann aber haben sie es
geschafft, ihre Hände betasten einander, kommunizieren,
greifen in die grüne Tasche nach ihren beiden
khakifarbenen Rangeley Lachshüten mit Pelzbändern
zum Befestigen der Fliegen. Sie holen ihr L.L. Bean-
Köder-Set heraus, öffnen es, schmücken ihre Hüte
mit den Fliegen und gehen auf der Hauptstraße des Freihafens
durch eine Stille, die eine Straßenlampe einfasst, einen Polizisten,
der sich eine Zigarette anzündet, und die kleinen Fliegengebinde:
Steinfliege und Koppe, Black Ghost, Maifliege, Grey Goose,
Rote Waldameise, Professor, Parmachene Belle.

Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke.

6. Oktober 2015 21:32