Hendrik Rost

Kaltes Amen

Die Sowjetunion gab es noch damals und die Sorgen der weißen Mittelschicht in der Hauptstadt, soweit ich für ein Jahr eingeladen war, sie zu teilen, kreisten um die Frage, wer in dieser Woche wann zum Psychiater geht. Jeder für sich. Mein Vorschlag, einmal miteinander zu reden oder gemeinsam zu demselben Therapeuten zu gehen, fiel auf vollkommenes Unverständnis, nein, wurde eher als ein Angriff auf die Hoheitsgewalt des Einzelnen über seinen Kummer (den immer andere verursachen) angesehen.

Jeden Abend gab es Salat, der einzeln in kleinen Schüsselchen für jeden vorbereitet wurde. Meine Gastmutter entdeckte an einer ihrer Tomaten während des Essens dann einen Stielansatz, den ich in meiner ganzen Unbekümmertheit beim Zubereiten übersehen hatte – ihr Gesicht entgleiste. Als ihr Mann versuchte, sie zu beschwichtigen, warf sie die Tomate quer über den Tisch in seine Richtung. Sie klatschte an die Wand, und wir Kinder aßen still, wie betend vorübergebeugt weiter, während die Eltern sich enthemmt anbrüllten. Auch an diesem Tag beendeten wir das Abendessen mit wild schlagendem Herz, dröhnenden Ohren und der Gewissheit, dass wir uns von Gewalt ernähren.

An Thanksgiving kamen Verwandte vom Land. Virginia war ein anderer Planet, südlich der Hauptstadt. Der Mann trug ein Truckercap und Dickies Arbeitshosen. Er sagte Sätze wie: He don’t care, und brachte Steaks von selbst erlegtem Wild als Gastgeschenk. In der Mitte des Tisches thronte ein Truthahn, groß wie ein dreijähriges Kind, und wartete geduldig darauf, dass wir unser Gebet, das einzige des gesamten Jahres, zu Ende gesprochen hatten, um ihn zu zerlegen.

Mein Gastvater präsentierte mich, den deutschen Gast, irgendwie als Beleg seiner heldenhaften Vergangenheit in der Armee. Er hatte sein Dienst während des Koreakriegs mit einer Blinddarmentzündung in einem Heidelberger Militärhospital verbracht. Den Schneid hatte er sich äußerlich bewahrt und wenn er abends zunehmend betrunken seinen immer gleichen Crooner-Songs lauschte, glich er dem Reagan aus Der Tod eines Killers. Und so wie Reagan diese Rolle später bereute, so würde dieser Mann, der schon zwei Familien zerstört hatte, morgen für wieder vom ersten Moment an versuchen, jeden von uns so lange zu erniedrigen, bis er gestärkt für einen Tag im Büro das Haus verlassen konnte.

Der Mann aus Virginia sprach mit später beim Digestif, Bier, an: Er komme eigentlich nur in die Hauptstadt, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Zum Essen etwa, als wäre dies ein Ersatz für einen Jagdausflug. „Junge“, sagte er, „das ist nicht Amerika hier.“ Und fügte hinzu: „Die Leute leben in ihrer eigenen Welt: fancy houses, fancy problems.“

Meine Gasteltern sprachen dann doch noch mit einem Therapeuten: Sie brüllten von verschiedenen Stockwerken per Konferenz in die Hörer und baten den zugeschalteten Shrink, dem jeweils anderen auszurichten, wie nasty, also gemein er wäre.

Ich blieb in diesem Haus zu Gast, statt auszubrechen, vielleicht nach Virginia oder Amerika, weil ich den anderen Kindern nicht zeigen wollte, dass man hier nicht leben kann. In so einem kapitalen Luxusproblem.

7. November 2016 12:00