Christian Lorenz Müller

LETZTER ZUG NACH IRPIN

I

Serhij Antonowytsch kam mit der letzten Stadtbahn,
er wanderte entlang des Flüsschens zu seiner Datscha,
zwei Kilometer, unzählige Male zurückgelegt
in seinem langen Leben, er erinnerte sich gut
an die Hitlersoldaten in Kyjiv, an die Ruinen,
die nach ihrem Abzug an den Straßen standen,
81 Jahre war er nun und gedachte, auch den Angriff
der Russen zu überleben, er sagte sich, dass sie
über Hostomel vorrücken würden, nicht über Irpin,
gewiss hielt auch Jurij Fylypowytsch die Stellung,
sein Nachbar, ein pensionierter General, der von sich sagte
ein Ohr für die Blockflötenmelodie der Granaten zu haben,
für ihr Pfeifen und Schrillen, für die Ballistik der Töne,
der Krieg als Konzert, auch das hatte Serhij Antonowytsch ,
42 Saisonen lang Sänger an der Kyjiver Oper,
dazu bewogen, den letzten Zug zu nehmen,
und tatsächlich, in Irpin war alles ruhig,
in der Datscha warf er die Gasheizung an,
goss sich ein, und die Vergangenheit klarte im Glas,
als er eine alte Scheibe mit Volksliedern
aus dem Plattenschrank zog, er dachte daran,
wie er und eine Kollegin anno 77 in bestickte Blusen
gesteckt worden waren, um dem Marschall vorzusingen,
Tito, der sich bedankte und alle Hände herzlich schüttelte,
während sein Gastgeber Breschnew, stockbetrunken,
in seiner Rede über die Freundschaft der sozialistischen Völker
mehrmals peinlich ins Stocken geriet,
Serhij Antonowytsch legte die Platte auf,
senkte die Nadel in die schwarze Rille aus Zeit,
die sich zurück in seine Jugend spiralte
und hörte sich selber singen, immer noch drang sein Tenor
frisch aus dem Knistern der Jahrzehnte, immer noch
war er ein junger Karpatenbursche, der seine Liebste
unter eine Hollerstaude zog, busyna, deren schwarze Früchte
Spuren auf ihrem weißen Sonntagskleid hinterließen,
auch im Garten seiner Datscha gab es so einen Strauch,
es gab den Hollerlikör, den er Viktorija verdankte,
seiner Frau, die ihn beschworen hatte, nicht zu fahren,
aber in Irpin war alles ruhig, noch ein Gläschen Likör,
sie kamen gewiss nicht über Irpin, Hostomel
würde ihr Weg sein, es war gut, dass er gefahren war,
nicht auszudenken, wenn Plünderer auf der Suche
nach Geld, nach Alkohol die Schränke durchkramten
und dabei die Platte mit den ukrainischen Liedern
zu Scherben zertraten, bis nichts mehr davon übrig blieb
als der Kartonkreis mit dem Loch in der Mitte,
nicht auszudenken, murmelte Serhij Antonowytsch
der nun sehr müde war und sich seufzend niederlegte,
längst schon stand die Nacht vor den Fenstern der Datscha,
buzyna, die schwarzen Früchte, hollerdunkel, schwer.

 

1. Juni 2022 09:14