Thorsten Krämer

Meine fünfzehnte Büchnerpreisrede

beschäftigte sich ausgiebig mit zwei japanischen Künstlerinnen, die ich sehr schätze: Yayoi Kusama und Kusama Yayoi. Ich war zunächst auf Yayoi Kusama aufmerksam geworden, B. schwärmte eines Tages von ihr und zeigte mir Bilder ihrer Arbeiten. Die geradezu manische Art, mit der sie alles, was sie umgab, mit diesen Punkten versah, die ihr Markenzeichen sind, brachte sofort etwas in mir zum Klingen. Auch ich kenne diese Bewegung, diesen Drang zur Wiederholung, der gleichzeitig auch eine Art Unfähigkeit darstellt, die Unfähigkeit nämlich, ein Ende zu finden. Es überraschte mich nicht, als ich von B. erfuhr, dass die Künstlerin von der Gesellschaft als krank betrachtet wurde und den Großteil ihres Leben in einer entsprechenden Einrichtung verbracht hatte – keineswegs gegen ihren Willen, sie schien sich dort wohlzufühlen. So sehr mich diese Arbeiten ansprachen, ich verfolgte das damals nicht weiter, nahm dieses besondere Werk nur voller Sympathie zur Kenntnis. Erst Jahre später sah ich auf Instagram ein Bild, das genauso aussah wie eine ihrer Arbeiten, aber nicht von Yayoi Kusama stammte, sondern von Kusama Yayoi. Ich staunte nicht schlecht, als ich diesen fast identischen Namen las! Sollte das ein Witz sein? Aber dann schaute ich mir die Arbeit noch einmal genauer an, und bemerkte, dass Kusama Yayoi gar nicht die Punkte von Yayoi Kusama kopiert hatte, wie es zunächst aussah, sondern vielmehr anstelle der Punkte Löcher gesetzt hatte. War das nicht großartig? Die eine Künstlerin setzte der Welt ihren Stempel auf, die andere, in einer diametral entgegengesetzten Skepsis, durchlöcherte die Welt. Kindlicher Übermut auf der einen Seite, tiefster Pessimismus auf der anderen Seite, verbunden durch die beiden Namen, die wie Spiegelbilder einander ähnelten. All das brachte ich in meiner Rede zu Papier, aber als ich sie dann im großen Saal der Akedemie hielt, geschah etwas Merkwürdiges. Schon bei der ersten Nennung der beiden Namen lachte jemand kurz auf. Während meiner folgenden Ausführungen wurde es immer unruhiger, man tuschelte, kicherte sogar. Wenn ich von meinem Manuskript aufblickte, sah ich in amüsierte Gesichter. Nur die Präsidentin der Akademie wirkte alles andere als amüsiert, sie sah mich streng an und machte dezent die Geste des Halsabschneidens. Ich dachte aber nicht daran, meine Rede abzubrechen, und sprach weiter bis zum Ende. Der Saal tobte inzwischen vor Lachen, die Stimmung erinnerte mich an eine Karnevalssitzung. Die Präsidentin stürmte auf die Bühne, schob mich wenig elegant zur Seite und lud zu den bereitstehenden Häppchen ein.
–Es ist vielleicht besser, wenn du mal eine Pause machst mit diesen Reden, sagte sie später am Abend zu mir, als sie sich wieder beruhigt hatte.
–Wenn du meinst.
–Ja, meine ich.
–Verstehe, sagte ich, aber ich verstand nicht wirklich.
Zu Hause betrachtete ich lange die Punkte und Löcher von Yayoi Kusama und Kusama Yayoi. Es schien, als sprächen sie zu mir, aber das Blut pochte zu laut in meinen Ohren und ich verstand nicht, was sie sagten.

17. November 2022 16:48