Christine Kappe

Nachtschnittplatz 1

Auch hier spitzen sich die feindlichen Lager zu: Siggi und Jörg reden nur noch per Rechtsanwalt miteinander. Der eine ist Idealist und Tontechniker, der andere Realist und Chef. (Dabei wird das Digitale uns letztlich überflüssig machen.)
Der Zusammenhang von Weltuntergang, Idealismus & Herzfehler! „Gebe dem Sender noch ein paar Monate.“ Mit Siggi allein in der Sendeabwicklung. Die Apparate flackern, der Ton schallt über den Bahnhofsvorplatz, auf dem sich der Verkehr staut – ein Meer, das gerade Flut hat – weil die Lokführer mal wieder streiken.
Siggi erklärt mir etwas, was ich gar nicht verstehe, weder akkustisch noch sonst irgendwie.
Einer der Kameramänner hat eine brennende Zigarette aus dem Fenster geworfen, sie ist unten, in einem der teuersten Restaurants der Stadt, auf einen Stuhl gefallen, der zu brennen anfing. Die Inhaberin des Lokals steht nun mit dem verkohlten Polster im Türrahmen und hält uns von der Arbeit ab. Aber wir berichten, glaube ich, ganz objektiv.

23. Oktober 2014 13:01










Tobias Schoofs

KEIN MEER

von fern vertut man sich: hier das
ist ein o · kein u · und das hier
ist das ich: prozess – nicht ding –
aus selbst und fremd bezug.

ich mach mal den vergil: das leben
ist ein auf und ab (c’est tout?):
da unten sehen sie maläste und
zur krönung · oben · haarspitzen

katarrh: das ist mein material.
so lernte ich anfahren am berg ·
alternativ fährt hier die straßenbahn ·
ein mehr gemeinschaftliches sitzen –

und das hier ist kein meer · es ist
ein fluss · er mündet weiter drüben.

(für Thorsten Krämer)

8. Oktober 2014 20:47










Thorsten Krämer

Ein neuer Fisch: Tobias Schoofs

Im vergangenen Jahrtausend bin ich Tobias Schoofs zum ersten Mal begegnet, wir gingen beide in die Kölner Autorenwerkstatt der frühen 90er Jahre. In seinen Texten und seinem Sprechen über Literatur sah ich eine ähnliche Überzeugung wie bei mir am Werk: dass es nicht ausreicht, einfach nur „schön“ zu schreiben. Wir verloren uns dann aus den Augen; erst 20 Jahre später, social media sei Dank, liefen wir uns wieder über den Weg. Ein gemeinsamer Nachmittag in Lissabon, unterwegs durch die Stadt und dabei naturgemäß unablässig redend, hat mich sehr neugierig gemacht auf neue Texte von ihm, und so freue ich mich auf seine Beiträge an diesem Ort hier.
Herzlich willkommen im Goldenen Fisch, Tobias!

8. Oktober 2014 10:20










Christine Kappe

Zustellversuch 10

für Richard Götting

04:35, Beyertour. 3 Meter vorm Ort, an dem morgen die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ stattfinden, muss ich eine Vollbremsung machen. Nicht etwa, weil ich die Absperrung im Dunkeln nicht gesehen habe, sondern das Entenweibchen, welches mir graubraun vors Rad lief. Soetwas ist mir hier noch nie passiert, normalerweise bleiben die Enten im Wasser, aber klar, jetzt fällts mir wieder ein, jetzt, wo meine Augen den Maschsee vergeblich suchen: stattdessen bloß eine weiße Folie sehen, wie eine Wand – ein Künstler hat ja zu diesem Anlass den Maschsee verhüllt, 78 Hektar! Ob das nicht ein bisschen übertrieben war? Und offenbar hat niemand an die Enten gedacht.

Der Wächter, den ich aufgeschreckt hatte, zündet sich mit knirschendem Feuerzeug eine Zigarette an. Ich fahre weiter, um die ungeraden Adressaten noch mit Zeitungen zu beliefern. In den Vorgärten rascheln hie und da die vertriebenen Enten. Vertrieben wie wir Menschen sowieso hier auf Erden, da kamen wir neulich mit Ric drauf: Der Mensch, der als einziges Lebewesen sich selbst auszurotten in der Lage ist, muss doch von einem anderen Planeten stammen. In Geibel 75 kauert ein verletztes Amselweibchen auf der Treppe. Es schaut mich mit Kulleraugen an und ich hätte es am liebsten mitgenommen. Ein paar Häuser weiter begegne ich einer ausgehungerten, streunenden Katze. Arme Amsel, denke ich. Doch es ist eigentlich nicht schrecklich.

2. Oktober 2014 10:15










Mirko Bonné

Alter Landweg bei Bergedorf

In Schlaglöchern gefunden:
Löffel von einem Pommerntreck.
Ich kann das Vergessen erkunden
in lauter schlammigem Dreck,

und die Scherben aus klarem Glas
sind Kristalle, die ich in Taschen trage.
Betrunkene warfen Flaschen ins Gras,
Birnenbrand erster Nachkriegstage.

Der Schädel am Weg ist nicht so alt.
Da sind von vorsichtigen Tieren Fährten.
Wird es Ende Mai über Nacht wieder kalt,
suchen sich Füchse die wilden Gärten.

*

27. September 2014 11:43










Mathias Jeschke

„Briefschreibendes Mädchen“ von William Carpenter

Ein Dieb fährt in seinem schwarzen Van zum Museum. Der Nacht-
wächter sagt: Sorry, geschlossen. Sie müssen morgen wiederkommen.
Der Dieb legt die Klinge seines Messers an das Ohr des Wächters.
Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit, sagt er, ich hätt gern ‘n bisschen Kunst.
Kunst ist zum Vergnügen da, sagt der Wächter, und nicht zum Besitzen.
Sie können nicht irgendwas… – da fährt ihm das Isolierband über den Mund.
Keine Sorge, sagt der Dieb, wir meinen beide das gleiche.
Er findet die Niederländischen Meister und geht auf einen Vermeer zu:
„Briefschreibendes Mädchen“. Der Dieb weiß, was er tut.
Er ist ein Dr. phil. Er schneidet die Leinwand vom Rahmen,
angefangen an der Ecke mit den Salatschüsseln bis hinunter
zum Sonnenlichtquadrat auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden.
Das Mädchen hört es gar nicht, so sehr ist sie in das Schreiben
ihres Briefes versunken. Sie bemerkt ihn gar nicht, bis es zu spät ist.
Da ist er schon im Bild. Und schon sitzt er am Cembalo.
Er spielt die g moll-Sonate von Domenico Scarlatti,
die einst ihr Herz zum Pochen brachte bis das Cembalo verklungen war
und es dann rasen ließ in Erwartung der wieder einsetzenden Musik.
Sie arbeitete dreihundertzwanzig Jahre lang an diesem Brief.
Jetzt ist ein Mann da, und obwohl er absonderlich gekleidet ist,
spielte er für sie auf dem Cembalo, nur für sie, sonst ist ja niemand
lebendig in diesem Museum. Der Mann, an den sie schrieb, ist tot –
wird Zeit, ihn zu vergessen – auch der Künstler, der sie gemalt hat, ist tot.
Sie selbst sollte tot sein, aber sie hat ein Ohr für die Musik
und ein Herz, das die Treppe des Gardner Museums hinaufläuft
mit einem Mann, den sie erst seit wenigen Minuten kennt, doch
tatsächlich fühlt es sich an wie ihr ganzes Leben. Und als der Dieb
ihr das Messer gibt und sagt: Du schneidest die Gemälde
aus den Rahmen und rollst sie auf, da tut sie’s. Als er sagt:
Kleb noch einen Streifen Isolierband über den Mund des Wächters,
damit er aufhört über Ästhetik zu schwadronieren, gehorcht sie.
Und als der Dieb sie ans Lenkrad setzt und sagt: Fahr, Baby,
die Nacht gehört uns, da ist es das Briefschreibende Mädchen, das den
schwarzen Van auf die Auffahrt zum Storrow Drive Richtung Westen
und weiter zum Mass Pike lenkt, es ist das Briefschreibende Mädchen,
das mit 80 Meilen die Stunde Richtung Westen fährt, in ein Land,
das noch gar nicht entdeckt ist, mit einem gesuchten Kriminellen,
einem Van voll Alter Meister und ohne Ziel, aber dem
Briefschreibenden Mädchen macht das nichts aus, sie hat ein Bier
in der freien Hand, sie ist unterwegs, sie ist lebendig und sie ist verliebt.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)

17. September 2014 15:07










Andreas H. Drescher

Späte Adonislibelle

Ihr Scharlach-Körper
Aus den Binsen
An den Rand des Gartentischs

Ist das ein Blick?

Als ich lächle ihr Handstand ihr
Auffliegen Kaum eine eine Handbreit steht er mir vor Augen
Ihr Scharlach-Körper Schon ist er f

o(&nbsp) r(&nbsp) t(&nbsp)

17. September 2014 13:40










Christian Lorenz Müller

Bei Debrecen

Zwei Wassertürme steigen auf,
Heißluftballons an Stahlseilen,
an der Schnur eines Kindes,
das im Maisfeld steht.
Die Welt hat kein Gewicht
bis die Schule wieder anfängt,
bis das rosa Kleid in den Dreck fällt
oder der Vater betrunken zuschlägt;
die Welt hat kein Gewicht,
sieh nur, wie der Mais
dem Himmelsblau entgegenwächst.

14. September 2014 12:01










Christine Langer

Nachtvogel

Während die Nacht sich aufplustert
In deinen Augen
Schwebt der Mond durchs Zimmer
Umkreist den schrillen Schrei der Wände

Die Wolken in den Laken
Balancieren auf unserer Haut
Reißen die Fenster auf
Scheiteln einen Stern

13. September 2014 11:15










Christine Kappe

Zustellversuch 9

Haus Tanneneck. Mein Kuli ist leer, deswegen muss ich mit dem Einschreiben bis an die Haustür, hätte sonst n Kreuz gemacht, dass ich niemanden angetroffen habe und das ganze in den amerikanischen Postkasten neben dem Tor geworfen. Ausgerechnet hier, wo ich durch einen großen Vorgarten muss, mit dem Wissen um die Existenz eines bissigen Hundes! Die Adressatin nimmt das Einschreiben und macht gleich wieder die Tür zu. Ich kann gerade noch hinterherrufen, ob sie einen Kuli hat, während der Hund in den Tiefen des Hauses wild bellt. Die Frau lässt auf sich warten, hat sie’s überhaupt gehört? Oh je: die Postzustellurkunde hat sie mitgenommen… Im Türschlitz die Zeitung noch von heut früh. Im gleißenden Sonnenlicht lese ich: Die ukrainische Führung erlaubte unterdessen der Polizei im Konfliktgebiet, auch ohne Waffen zu schießen. «Dies erhöht die Sicherheit der Milz.» Ich überlege, wo die Milz sitzt, aber ich komm nicht drauf. Viel zu wenig weiß man… Da öffnet sie die Tür wieder, einen kleinen Spalt und sagt zur Entschuldigung: „Ich will nur nicht, dass der Hund wegläuft. MUSS ich unterschreiben? – Ich habe ALLES bezahlt!“

12. September 2014 12:46