Kerstin Preiwuß

Juri Andruchowytsch

„Das Tollste kommt, wenn die Alpträume zu Ende sind. Du, Kiew, kannst ein Lied davon singen.“

(aus: das letzte Territorium)

29. Januar 2014 20:33










Nikolai Vogel

Guernica

im Hospital
mit Ursonate

28. Januar 2014 22:07










Andreas Louis Seyerlein

3.18 — Ich gehe ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer ande­ren Art und Weise, als würde ich noch sit­zen. Ich habe schon viel nach­ge­dacht wäh­rend ich ging. Und ich habe schon viel ver­ges­sen wäh­rend ich ging. Wenn ich gehe, kom­men die Gedan­ken aus der Luft und ver­schwin­den wie­der in die Luft. Wenn ich sitze, kom­men die Gedan­ken aus den Hän­den. Sobald ich ein­mal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tas­ten und war­ten. Sie war­ten dar­auf, dass eine Stimme in mei­nem Kopf dik­tiert, was zu schrei­ben ist. Ich könnte viel­leicht sagen, dass meine Hände dar­auf war­ten, mein Gedächt­nis zu ent­las­ten. Was ich mit mei­nen Hän­den in die Tas­ta­tur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespei­chert, weil ich weiß, dass ich wie­der­kom­men und lesen könnte, was ich notierte. Selt­same Dinge. Ich denke manch­mal selt­same Dinge zum zwei­ten oder drit­ten Mal. Gerade eben habe ich wahr­ge­nom­men, dass es nicht mög­lich ist, zwei Zei­chen zur sel­ben Zeit auf mei­ner Schreib­ma­schine zu schrei­ben, immer ist ein Zei­chen um Bruch­teile von Sekun­den schnel­ler als das andere Zei­chen. Wenn ich selt­same Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht blei­ben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewe­gung ver­setzt. Ich springe auf, wenn ich sitze, oder ich springe in Luft, wenn ich bereits auf mei­nen Bei­nen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer ande­ren Art und Weise, als würde ich noch sit­zen. — Kurz nach vier Uhr auf dem Maidan-Platz, Kiew. — stop

> particles

28. Januar 2014 21:15










Hans Thill

bittschrift fürs kommende jahr

von ABDELWAHAB MEDDEB

was sagst du zu unserem schritt
der schwer auf der welt lastet?
weisst du dass die sohle des asphalttreters
funken versprüht schädlich für den baum
aufrecht, kümmerlich in seiner erdscheibe?
hört er den lärm der wälder gefällt
im gas das deinem körper entweicht?
die fabrik ein wiederkäuer wie das vieh
zahlreich auf der wiese wo es grast;
heftig flattert der schmetterling
aus dem unterholz des kleiderschranks
kaschmir mit löchern da und dort
kommt die haut durch durchsiebt der
pullover des verurteilten, den man erschiesst;
sing lieber von der anmut der sonne – wenn sie ihm
die zähmende hand reicht und schenkt
da der granatapfel aufplatzt versengt
von ihr wie die windgebräunten wangen

Barcelona, 26. Dezember 2013

28. Januar 2014 17:51










Christine Kappe

Zustellversuch 6

Rimpau 21. Irgendwo muss der Hund sein… Der Hermesbote hat die Lieferung nicht grundlos auf die nasse Erde neben dem Gartentor gestellt. Ich sehe nichts, höre nichts, gehe durch die offenstehende Pforte zur Haustür. Stille. Ich werfe die Post ein. In diesem Moment bellt er los und wirft sich von innen gegen die Tür, zerfetzt die Post, tobt, ich höre ihn noch, als ich schon 5 Häuser weiter bin.

Einmal war er im Garten. Ich hörte ihn durch die blickdichte Hecke. Sein Bellen klang wie ein Husten, bei dem sich viel Schleim löst. Seine Herrin rief mir zu: „Ich habe ihn an der Leine!“ Aber das war mir egal, ich wollte leben. Ich warf die Post auf die Erde und fuhr so schnell wie möglich weiter. Ich hörte, wie die Frau ihren Hund anschrie, dann schrie sie hinter mir her.

Doch der Hund kann nicht anders: das freistehende Haus ist ein Paradies: die Garage mit dem silbergrauen Jaguar steht offen, Fahrräder lehnen unangeschlossen am Zaun, Spielzeug liegt über den Rasen verteilt und an der Haustür hängt von außen ein dicker Schlüsselbund.

28. Januar 2014 14:24










Thorsten Krämer

Boston Common from The Ritz

Alles hier ist deins: Die Äste sind deins, die Zweige
sind deins. Die Blätter, die am Boden und die
in der Luft, sind deins.
                                           Der Schatten auf dem Rasen
ist bei Tag in deinem Auftrag unterwegs. Dein Reich
vermisst er bestenfalls zur Hälfte, denn all dies
hier, Majestät, ist deins.

28. Januar 2014 13:01










Sylvia Geist

Wiederfund (17): Schwarze Hunde

Nach Einbruch der Dunkelheit ließ man sie von der Leine, während ich unter einer Laterne stand, als hätte man mich dort angebunden. Oder sie kratzten an einer schwächlichen Tür, Zähne schon an der Klinke, oder rasten mir über Bahngleise nach, bis bloß noch Fliegen half. Meistens waren sie zu zweit. Schwarz waren sie immer: Zwei Rottweiler, zwei Dobermänner, zwei Molosser. Fasste ich mir tagsüber doch mal ein Herz und setzte meinen Weg auf derselben Straßenseite wie die mir entgegen laufenden Vierbeiner fort, konnte man darauf wetten, dass sie spätestens, wenn ein vorbeifahrender Bus ein sofortiges Überqueren des Fahrdamms verhinderte, heiser bellend auf mich zu preschten.
Dass wir zu Hause Berner Sennenhunde hatten, half mir nicht. Außer der Schulterhöhe hatten sie kaum etwas mit meinen Schreckenskötern gemein, außerdem steigerten die Berner die Sympathie, die mein Vater Hunden schon früher entgegengebracht hatte, allmählich in ein geradezu symbiotisches Lebensgefühl, so dass meine Phobie immer wieder Anlass zu fruchtlosen Verhören und ebensolchen Tadeln gab.
Dabei sah ich es selbst ein. Wie beschämend es war, und wie traurig, das Klirren eines Halsbandes aus mindestens zweihundert Metern Entfernung wahrzunehmen, alles Schöne oder wirklich Interessante dagegen zu überhören. Wie konnte ich es überhaupt hinnehmen, mich von dieser Angst auf Kinderspielplätze und Friedhöfe abdrängen zu lassen? Längst wagte ich mich nicht mehr allein in den Wald, und in städtischen Vororten hatte ich mir angewöhnt, im Rinnstein oder gleich mitten auf der Fahrbahn zu gehen, in nur scheinbar sicherer Distanz zu den hinter den Gartenhecken lauernden Wachposten, denn inzwischen genügte ein routinemäßiges Kläffen, mich flattern zu lassen.
Notgedrungen hatte ich allerdings begonnen, meinerseits Jagd auf die Alptraumtiere zu machen. Wenigstens auf dem Papier sollte das Problem in den Griff zu bekommen sein, sollte doch das Personal statt meiner damit fertig werden! So in etwa kam es auch: Leonie wird – im Gegensatz zu ihrer hasenherzigen Erfinderin – von einem herrenlosen schwarzen Hund gebissen und adoptiert das Tier. Doch vielleicht entglitt mir die Geschichte, oder ich dachte mir, so viel Exorzismus müsse schon sein, jedenfalls ist der Hund am Ende tot. Mein Vater, der das Lesen nie gebraucht hat, gleichwohl liest, was aus meinem Kopf zwischen irgendwelche Buchdeckel findet, sah das aber anders: „Nein, nein, Leonie denkt nur, sie hätte Black getötet. Da steht´s doch: Seine Stirn traf auf die flache Seite des Axtblattes. Na bitte, auf die flache Seite. Und hier: möglich, dass sie sich dieses kurze, fistelnde Aufjaulen auch nur eingebildet hatte. Blut sah sie keines. Na bitte.“ Ein Hund wie dieser sei nicht so leicht umzubringen, dabei blieb er – und schien damit nicht allein zu stehen.
„Man kann den schwarzen Hund nicht töten“, las ich bei Les Murray. Er musste es wissen, nach zwanzig Jahren mit einem dieser Monstren. Hinsichtlich eines anderen, womöglich noch ärgeren Exemplars war Giorgio Caproni in Der Graf von Kevenhuller der gleichen Meinung und setzte noch eins drauf: „Die Beute, die dich, erschlagen, erschlägt …“ *
Ob in der Weigerung meines Vaters, das Ende „Blacks“ in jener Geschichte anzuerkennen, nun etwas Wahres steckte oder nicht, ich erinnere mich, dass ich nach der Begegnung mit Capronis Hund vor Wiedererkennensfreude, Schrecken und Erleichterung eine Zeit lang nicht zum Schlafen kam.
Tatsächlich sind meine Hundeprobleme nicht so einfach totzukriegen, sehr langsam verlagern sie sich aber ein wenig. Eines Morgens fand ich mich in einem Wintergarten voller Nichtraucher wieder. Ich war erschöpft und überdreht nach langer Reise, wild auf eine Zigarette und in entsprechender Stimmung, traute mich aber wegen des Schäferhundes der Gastgeber nicht, mich vom Platz zu rühren. Insgeheim wünschte ich das Tier zum Nordpol, und als hätte es mich gehört, gähnte es ausgiebig, wobei es alle Zähne zeigte. Dann kam es zu mir und leckte mein Ohr.
Auf einem Gang über den Homestead Trail oberhalb von North Vancouver wiederum tauchte letzten Sommer ein Rudel von vier stehohrigen, hochbeinigen, mehr oder weniger schwarzen Tölen auf, die mich wacker verbellten, während mein Herz stockte und weiterstolperte, wie gehabt. Trotzdem fehlte etwas. Es mag ein paar Minuten gedauert haben, bis uns klar wurde, was es war. Ein Zaun fehlte, hinter dem sich bellen, und ein Fahrdamm, über den sich rennen ließ, und irgendwie fehlte damit auch der Grund dafür. Nach der kleinen Weile, die wir – sie und ich – brauchten, um das zu merken, wurde es still, das heißt, alles Mögliche war zu hören. Rascheln, Spechthiebe, Plätschern, Stimmen jeder Art.

27. Januar 2014 14:59










Hendrik Rost

Nach dem Kindergeburtstag

„Dann mach ich etwas ganz Böses. Dann schreib ich ganz böse Gedichte, die sich gar nicht reimen.“ – Pumuckl

Das Gedicht, dieses und jenes, kommt nie aus dem Verstand. Wenn ich nachdenke und etwas verfassen will, dann wird daraus nichts. Sprödes und Ödes. Wenn ich abends aber lese, eigentlich schon zu müde, und dabei auf etwas stoße, das nicht nur ausgedacht, nicht nur empfunden ist, dann fällt mir oft ein Name ein – vielleicht ein Titel oder eine Phrase – und die wirkt dann über Nacht und wächst. Am Morgen brauche ich oft nur noch zu notieren, was daraus geworden ist. Der klare, kalte Verstand hat dabei kein Recht. Die Unterscheidung in „Mag ich – mag ich nicht“ ist gut für Kinder. Wenn sie aber gelernt haben, ihre Angst vor Neuem zu verstehen und vielleicht sogar die Bedrohung und die Einsamkeit dahinter zu genießen, sind sie plötzlich reif, wie viele Erwachsene es nie werden konnten. Das Neue ist das, was bleibt, wenn ich nicht über andere urteilen muss, nicht beeindrucken will.

27. Januar 2014 09:38










Christine Kappe

Moskau 2

Geschichte ist teuer
und wird zu einer Zeit ausgegraben
da die Zukunft verschüttet liegt
Wieder einmal haben sie die Weihnachtsbeleuchtung nicht abgenommen
Es ist ein hoher Ton im Verkehr hier
etwa eine Mücke
krepostj
die Beschreibung des ersten Gebäudes der Stadt
durch dicke Brillengläser
Die Anstrengung, uns das vorzustellen
während die Holzstraßen uns ins Gesicht geschrieben stehen
und die vielen unbekannnten Vokabeln für Holzgeräte

26. Januar 2014 17:49










Markus Stegmann

Oslo, also wie soll das so für sich

Soll das wieso im selben Gedicht
trennen wir
am schwarzen Gurt
Malinda im bleib
du wenigstens trennst du die
Tabletten macht
es
mir nur mehligere
Sicht ins zwischen uns
gelockerte Land was
wenn das so ist
wie es spricht
warum ist es
ist
tot und
anders gewindelte Schnur
dem leb mal nach aus
nass im Schnitt
ungeregneter Vergangenheit
schob sie minderes Laminat
im Wohnen wie wir halten
die Gegend länglicher
am Mund verlagerte seitlich
verrutschte aber immerhin
irgendwie
gemeinsame Lippen

25. Januar 2014 00:38