Tihomir Popovic
montagsglocken
ich reiche
mir die hand
und steige aus
die zitadelle
sie erzittert
vor geläut
ein meer
ein weiches
bruderholz
ergießt sich
über mich ich
zünd es an und
schwimme
………… basel
29. Juli 2022 12:51
ich reiche
mir die hand
und steige aus
die zitadelle
sie erzittert
vor geläut
ein meer
ein weiches
bruderholz
ergießt sich
über mich ich
zünd es an und
schwimme
………… basel
29. Juli 2022 12:51Mit ganz erstaunlich wenigen, klanglich fein austarierten Wörtern, die über die Zeilen zu laufen scheinen wie Fingerkuppen über Klaviertasten, entwirft der 1974 in Belgrad geborene Tihomir Popovic seine Gedichte. Frappierend sind ihre historische Tiefe und ihre kindliche Landschaftlichkeit, in deren Zentrum stets Einzelne stehen, die unterwegs sind und darüber staunen. Tihomir Popovic lebt heute in Hannover und lehrt Musikgeschichte und -theorie an der Hochschule Luzern. Zusammen mit Markus Stegmann, dem mein inniger Dank für seine Lektüreeindrücke und sekundierende Begleitung gilt, heiße ich einen echt europäischen Dichter im Goldenen Fisch aufs Herzlichste willkommen. Willkommen, lieber Tihomir!
*
29. Juli 2022 10:45die Porträts mit dunklem Hintergrund,
die Erinnerung mit hellen Stellen,
Trauer, Fröhlichkeit,
eine neue Seite,
Buchseite, Bildschirmseite,
Seitenstraßen, Seitenfenster,
die Lust zu tanzen, Erschöpfung, der Zustand der Welt,
einen Vorhang zuziehen, lange Wimpern, die Augenfarbe, Augenblick,
Onlinezeiten, Offlinezeiten,
Ausformuliertes, Angedachtes,
ein gesuchtes Wort,
Zusammenhänge,
28. Juli 2022 13:01Das Nähmaschinenzwitschern
der Lerchen über dem Tempelhofer Feld,
sie flicken ein paar weiße Wolken ins Blau.
Auf der Startbahn zwei Skaterinnen,
ihre nackten Beine blitzen, zwei Scheren,
die sich rhythmisch öffnen, rhythmisch schließen.
Berlin gewandet sich in Sonntag,
heftet sich die grüne Borte der Friedhöfe
mit Kirchturmnadeln
an den Rand von Neukölln
und seine Schwalben
sticken sich selbst in die Luft.
Für Marbo M. Becker und die anderen
Betreiber*innen des „Belvedere am Kreuzberg“
27. Juli 2022 09:21
Eine neue Java Version ist verfügbar, elfsilbig, mit weiblicher
Kadenz, Nichts Nirgends Niemand Nie, und wohnt in einem
baufälligen Haus (daher Kadenz). O meu Corpo. This is
not a love song. Du bist Pseudotsuga.
Du bist Douglasien
Hol mich ab, reiss mich aus dem Pullover, du bist ein
Tintenfisch. Einen Vogel soll es noch in Marbach geben,
der dich wecken muss. Dich und die verborgene
Grammatik, Lingua, Bilingua, Trilingua,
vier Hunde im Weltall,
vier unbegreiflich schöne Silben, im Keller meiner Karaoke
nur Schiffsirenen, gehäkelte Pilze. Mit Xarrala, der
Plaudertasche, stellen wir uns vor, du bist in
einem Hotel. Lass uns dort die Kleider tauschen,
lass uns stumme Puppen sein
sal dulce in einem dummen Zimmer. Lass uns meinetwegen
auf Landkarten schlafen und später kaufen wir uns
einen Autobahnrand, lernen eine Männersprache,
wenn nicht mehr, warum nicht Machado?
Dann ist neun
Du schaust auf die Uhr, du bist Elur Maluta. Sollten wir jetzt
nicht endlich auf den Horizont verzichten? Als wäre er
eine Chorizo-Scheibe, Fetzen eines Festes im Stillstand
der Luft, Musikkapelle für die Finger
Begrüßungsgedicht für Rosa Berbel, Alexandru Bulucz, Yolanda Castaño, Maria Josep Escrivà, Mara Genschel, Mario Martín Gijón, Katja Lange-Müller, Agnieszka Lessmann, Àxel Sanjosé, Castillo Suárez, Tom Schulz. Edenkoben, 29.06.2022
30. Juni 2022 11:01Schritte längs des blassen Betons,
Wolken mit stumpfer Nase,
verschlossenem Tor, Bananenbäume,
Farne, löchriges Karminrot,
Kartonschachteln und
überfüllte Gewächshäuser.
Mit einer Pistole durch die Luft
geschossene Landschaft, Bauland,
verlassene Terrassen, Lastwagen.
Pflücke ich gelbe Blüten,
befestige den Mond am Morgen,
von Vögeln gefilterter Vormittag,
als aus Zisternen ein fahles Bild
auslief oder aus Mauern wuchs, steil
der Sonne ausgesetzt, heftet sich
mein Mund an den Dunst,
die Augen in die schattige Schlucht
versenkt, aus der Drehung die
nächsten Schritte scheinbar
mühelos in den Himmel gelenkt,
auf dem Weg
der wenigsten Insekten.
20. Juni 2022 20:401
Sie schreibt dir früh, sie habe dich
lieb. Du wirst davon wach, erkennst
wieder: Bäckerei, das Licht. Rauchend
stehen Frauen in den Hauseingängen,
reden, lachen, und der Regen friert, es
schneit, es wächst dir dein Gesicht.
Die Nacht siehst du und verschwimmen
die Straße, die Lichter, einen Lösch-
zugeinsatz gegen sechs. Brennendes
Verlangen nach Talk Talk im Morgen-
dröhnen. Nach Zimmerwind. Und dass
der neue Tag mit ihrer Stimme beginnt.
2
In den Fenstern siehst du Lichter
oder Leute, vereinzelt, fremd, die
sich fit halten, da unbeirrt glauben
an Instandhaltung, die Haltbarkeit.
Das Mädchen mit dem Dutt nimmt
die Brüste in die Hände und hüpft;
mit den beiden Huskys streicht der
Maharadscha vorbei. Der Schnee,
verharscht. Zum 55. Mal 21. Februar.
Die Stadt sinkt in die Stille ein, die
Tatenlosigkeit. In Nachtfrost. Warte
auf kein Wunder mehr. Lass sein.
3
Was der Harsch meint: Da liegen
Schneereste auf den Lichtungen.
Was die Hand des Nachbarjungen
in den Schnee schreibt auf deiner
Motorhaube: Thanks Mister Winter.
Was du wissen solltest: Unlenkbar
alles Glück. Es kommt, es geht vorbei.
Bei Flockentreiben bleibt innen die
Stimme, die immer schon zu dir sagt:
Hast du noch Lieder, dann sing sie
wem vor. Horch auf das Ticken im aus-
kühlenden Motor: Sei Ticken und Ohr.
4
Fern: das Dorf im Luberon, das alte
Haus mit den blauesten Fenstern,
mitten im Ort, unter dem Kirchlein,
mit Blick von der Terrasse ins Tal,
mitten im Feigenduften. Manchmal
scheucht der Mistral das Nichtfest-
genagelte die Straße hinunter. Nah:
Kinder, Geister, unermüdlich Spiel.
Im Licht versteckt sich die Eidechse,
der Parkplatzoleander schneit. Näher
als nah: sie und ihr Löwinnenverstehen
aller Zweifel, ob, wann, wo und wie.
*
18. Juni 2022 00:18