Hendrik Rost

Die Hölle sind und waren nie die anderen. Die Hölle ist man immer selbst.

Immer häufiger sehe ich Menschen, die ihre Augen verdrehen. Ein Telefon klingelt im Zug: Einer verdreht die Augen. Die Verkäuferin versteht die Frage der Kundin nicht: Sie verdreht die Augen. Ich trete versehentlich auf den Radweg: Der Radfahrer verdreht die Augen. Ein Kind wird laut: Augen werden verdreht. Es hat eine seltsame Wirkung, dies Verdrehen. Die Selbstbeherrschung ist perfekt bis auf die Augäpfel, die sich in den Höhlen verwinden. Ungefragt nimmt sich der Verdreher das Recht, sein Missfallen oder seine Überforderung abschätzig mitzuteilen, eigentlich subtil, aber überdeutlich und immer unangemessen. Es ist für die, die das Verdrehen mitansehen müssen, nicht schön, den anderen derart leiden zu sehen. Ist es so schlimm? Ist das alles wirklich so schlimm?

27. Februar 2013 10:18










Markus Stegmann

Rest

Der Schnitt der Rosen hamsterte zu viel von seiner Zeit. Im Stadtgarten gingen die Beete aufrecht den Sterbenden entgegen, ohne dass sie sie sahen. Ich hielt meinen Mund zwischen Mütze und Vergessen verborgen. Viel zu schnell wendete sich die Geschichte, zuerst gegen mich, dann aber, wesentlich filigraner, fasste sie nach uns allen, und der Rest brach ein. Warum? Vielleicht erreichten die Erfrorenen vor langer Zeit die Fische, verschluckten, federten sozusagen die entscheidenden Minuten hinter vorgehaltenen Händen, aber bluteten nicht. Warum? Wieso floss ihr Blut nicht, während alle anderen der letzten Woche ihre Knochen nicht mehr fanden?

26. Februar 2013 22:54










Hendrik Rost

Assessment

Der Bettler mit der Krücke, den ich täglich auf dem Gänsemarkt stehen sehe und dem ich öfters schon etwas Geld gegeben habe, obwohl er es für Branntwein ausgibt, lief heute aufrecht und beschwingt über den Platz. Entgegen kam ihm eine Frau an zwei Krücken mit einem amputierten Unterschenkel. Er sah aufmerksam zu ihr und betrachtete das fehlende Bein. Womöglich kam ihm der Gedanke, dass, egal, was man auch tut und aufbietet, es gibt immer noch jemanden, der besser ist. Das ist nicht nur eine Tatsache, sondern auch ein Trost, denn ich kann ihm Geld geben, ohne wissen zu müssen, was er dafür leistet oder ist. Vielleicht kommt ja heute sogar niemand zu mir und verlangt zu wissen, ob ich mein Geld wert bin. Ich tu, was ich kann. Aber noch ist alles dran.

20. Februar 2013 15:32










Christine Kappe

Momente / Memos III

Graue Nachmittage im Spätwinter. Wer nicht allzu krank ist, huscht zum Einkaufen. Jannek z.B. Es ist unklar, wie wir uns begrüßen sollen, ohne Bakterien auszutauschen. Aber die eigentliche Krankheit ist doch der Winter. Oder die langandauernde Herbst-Depression von Herbert.
Jannek schiebt die russische Fellmütze ins Genick, die sein Gesicht verdeckte. Eigentlich mag ich ihn und sein Suchen nach den treffenden Worten, das nie ein Ende findet. Wer weiß. Wer weiß, warum Herbert Jannek nicht mehr mag.
Und wer weiß, wenn ich früher erkannt hätte, dass Herbert viel kränker ist als Jannek, vielleicht hätte ich dann mit Jannek über Herbert geredet und vielleicht hätten wir Herbert dann helfen können. Jetzt… huschen wir wieder unserer Wege („Mami, kennst Du diesen Mann?“), und den letzten beißen die Hunde, aber Herbert beißen ja noch nicht einmal die Katzen.

20. Februar 2013 14:23










Mirko Bonné

Schnee im Mirabell

Im Garten knackt das Eis. Die Nacht
legt sich zu einem Tuch aus Frost
um alles, was sie spiegelt, und
der Himmel wandert. Jemand lacht

im Wind der weggebeizten Sterne,
vielleicht weil oben, heller Blick,
so groß der Mond steht. Dunkelblau
zieht es zwei Fahnen in die Ferne,

und in den Lichthof stürzt der Schnee,
als könnte er sich damit retten.
Sechs Uhr. Die Glocken. Eine Frau
am Ufer bettelt noch. Ich geh

und sink zu ihr durch stumme Zeit –
zu Felsen und Musik der Toten,
dick Eingemummten in den Bussen,
dem Schmerz in der Genügsamkeit.

Für Hans Weichselbaum

17. Februar 2013 09:15










Sylvia Geist

Kleine Barena

Wenn ich mich verspielte
in der schwarzweißen Allee,
sah es aus wie Zuhause
nach der Flut.

Kein Ziegel mehr am Abend,
Lagune unter Terpentin, das Wolkenöl
von einer Wand gewaschen, Schimmel
für den hohlen Zahn des Campanile,

krumm wie mein Urgroßvater
ihn nie gesehen haben kann –
alles fand sich im Gemälde
über dem Klavier

verkehrt und trieb
mit den zerschlagenen Puppen
der Töne den Tauben zu, den Stillen
ans Fenster. In sich

verkehrt und wunderlich,
die Stadt im Ordovizium, wo er
in einer Gondel lebte, in seinem selbst
gemachten Anzug und in Taubentönen

das Gesicht. Vernünftige Farben
hatte er keine, Rot kostete das nasse Brot,
Grün behielt Gott – oder Blatt – schau,
sagte er mal zu seiner Jüngsten und

ich glaubte ihm. Natürlich haben wir
nicht geredet, doch ruderten wir manchmal
die Barena hoch in einem Lied,
klarte es auf über dem Boot.

9. Februar 2013 15:29










Andreas H. Drescher

LITERATUR-PERFORMANCE „POETOSPHÄRE“

Die Poetosphäre mit den Texten „Frottee“, „Prometheus-Raben-Rätsel“ und „Katzenmusik“.

8. Februar 2013 18:46










Hans Thill

Der Text als Test

Die Fasenacht kommt mit Gekreisch
Thill zeigt der Wörter heisses Fleisch

(Mainzer Poetikdozentur der Akademie der Wissenschaften
und der Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz mit Hans Thill
Öffentliche Vorlesung: ›Der Text als Test‹
den 8. Februar 2013, 14 Uhr c.t., P2)

6. Februar 2013 18:04










Björn Kiehne

Abendbrot

Der Abend füllt
die Küche mit Licht.

Auf dem Tisch die
Krumen des Tages.

Ein Nachtvogel
fliegt herein,

pickt sie auf, ölt sein
schwarzes Gefieder.

1. Februar 2013 10:45










Christine Kappe

Zustellversuch 3

Krausen 11a: Durch den langgezogenen Glasbaudurchgangseingang, der zur Briefkastenanlage führt, schaut man in den hinteren Teil der Kaffeerösterei. Oft sitzt hier ein Mann an einer alten Kaffeebohnen-Sortiermaschine beim Licht einer gusseisernen, mit zwei rostigen Gewichten stabilisierten Schreibtischlampe. Aus einem grobgewebtem Jutesack fallen die Bohnen auf ein von der Lampe beleuchtetes, langsamrüttelndes Förderband, von dem aus sie auf eine Rutsche unter dem Tisch rollen, über die sie sekundenschnell in einem Kanister verschwinden – bis auf jene, die der Mann mit einem Kugelschreiber vorher zur Seite geschnippst hat, jene etwas helleren und jene etwas dunkleren, jene etwas schrumpligen, gefleckten, kleineren, zerbrochenen… Wenn der Mann dort nicht sitzt und die Maschine stillsteht, im Dämmer, im Un-Licht, liegen die nicht gewollten Bohnen mit ihren unterschiedlichen Brauntönen und Formen in ehemaligen Marmeladengläsern oder einfach nur herum.

30. Januar 2013 17:21