Gerald Koll

hip and happy

20. Oktober 2011 16:40










Sylvia Geist

Ruperts Piaf

Rauscht an. Rasselt, flattert auf den Eibenzaun und
die zwei alten Frauen auf dem Weg vorbei, über die
Parkenden zwischen Zellers und 7-Eleven, kreist, dreht
ab zu einem musealen Stück Rangiergeleise, hinunter
zum Ponton, von dem es fett ins Hafenwasser rinnt
und hallelujablau, wie Haut und die von Ort und Stelle
ausgeputzten Innereien des Halibuts in roten Händen sind.

Von allen Variationen ihres Lebens ist es die, in der sie
abends gegen sieben im Zierbeet ihres Rosenkleides
mit dieser Stimme vor den Rabatten steht. Mund
auf die Zähne gemalt, das dünne Haar toupiert
vom Wind, steht sie, für eine Stunde beäugt und
unbehelligt, mit vorgestreckten Armen, eine Statue,
die der Bucht den Segen gibt – es lebe der Abend!

unter dem das Nest wie eine Beute liegt, schon kalt und
von überall weggezogen unter der Harschdecke Blinken;
im Schlepptau der Tide der Fährenpalast, der erste Zug
nach Süden, der zum Vergessenwerden lang und leise
in den Uferfichten hält, die Entfernung, die sich verstellt
und alles mit Nebel begleicht und verbindet, der Nebel
lebe, wo wie in einem unbestimmten Vertrauen die Dinge

weiterlaufen, leben. Neben ihr auf seinem Hocker
der Rekorder spielt das Rauschen ab, die Regenbänder
Lieder, spult und blinkt – done, done. Acht gleich, aus
dem Wäldchen von McClymont jagt die Dunkelheit
noch ein paar Gäste vor sich her, eine neue Runde
Blechbackgammon auf dem Platz, gleich kommt auch
sie los, stellt sich, Ende meiner Vorstellung, dem Haus.

5. Oktober 2011 16:09










Mirko Bonné

Hope Park

Über Edinburgh wurde es Nacht,
und ich war allein in East Mayfield,
an einer leeren Straßenkreuzung
zwischen afghanischem Takeway
und zwei dunklen Friseursalons.
In der Tasche hatte ich die Pfund
für ein Sandwich und Dosenbier
und die Faust geballt vom Glück,
mitten durch mein Leben zu gehen.

Da rannte zerzaust von den Böen
atemlos ein dicklicher Junge vorbei,
Handy am Ohr die Böschung hinab,
überholt vom Heulen und Blaulicht
einer Ambulanz, die vor ihm einbog
in die Straße am Park. Der Hope Park
da unten war das nachtschwarze Meer.
Und der Junge lief ins Blau wie ein Ball
bei Sturm über den leergefegten Strand.

*

30. September 2011 09:07










Nikolai Vogel

Ich

28. September 2011 14:56










Kerstin Preiwuß

außen ist welt immer das ganz nahe
der kater blickt gelb
der schnabel des vogels ist aus horn
sein auge eine blaue höhle
der rest verfällt
morgens ist das gras immer frisch
ich bewege mich so lange nicht
durch den mückenschwarm
bis ich ihn einatmen kann
lasst alle tiere über mich kommen
welt ist immer so
atemlos für einen moment
kann ich sagen
was ich erfahren habe
kann jeder ertragen
was ich ertrage ist das was ist
dieses gleichgewicht
beginnt unter der haut und
auf ihr spürt man es kaum
dazwischen ringt es mit mir
um nichts in der welt gebe ich es auf

(mit Dank an alle guten Menschen, Tiere und Geister im Künstlerhaus Edenkoben)

23. September 2011 12:33










Gerald Koll

Katholiken

Ein wahrer Katholik wird sich nicht nur im Berliner Olympiastadion unter Aufsicht des Heiligen Vaters als Katholik betrachten und betrachtet fühlen, sondern auch fünf Minuten später, wenn er im Anschluss an die Heilige Messe seine Tasche im Taschenaufbewahrungszelt abholt. Dort, im Taschenaufbewahrungszelt, musste jeder noch so fromme Katholik seine Tasche abgeben, damit niemand Waffen ins Stadion schmuggelt, um Anschläge zu verüben. Aus den fünf Minuten werden allerdings schnell ein bis zwei Stunden, weil es für 80.000 Katholikentaschen nur ein einziges Zelt gibt. Deshalb ist Geduld gefragt. Katholiken haben keine Geduld. Jedenfalls nicht die im Olympiastadion. Wenn die Katholiken an der Himmelspforte so miserabel Schlange stehen wie vor dem Taschenaufbewahrungszelt, werde ich auf ihren Himmel verzichten. Alle drängeln wie die Teufel. Besonders die polnischen Katholiken. Und unter den polnischen Katholiken besonders die kleinen Frauen. Die schieben sich gegenseitig einfach durch. Hier also, dachte ich, sehe ich das wahre Gesicht des Katholiken.

Was für Lumpen, dachte ich, was für miese Lumpen diese Katholiken doch sind. Im Stadion noch drücken sie verzückt ihre eigenen arglosen Babys den Ordnungskräften in die Hand, damit sie sie dem Heiligen Vater zutrügen, damit er sie segne. Auch reichen sie mir ihre Hände und wünschen mir leutselig Frieden, und fünf Minuten später knüppeln sie mich nieder, um zehn Sekunden schneller an ihre Tasche zu kommen. Eine Frau bekam direkt im Zelt einen hysterischen Anfall, als ihre Drängelei aufflog und ihr die Tasche verweigert wurde. Sie wurde von Ordnungshütern gewaltsam aus dem Zelt entfernt. „Lassen Sie mich los!“ schrie sie, „ich will meine Tasche“, schrie sie weiter, übrigens in akzentfreiem Deutsch, und ich wusste, wie sie Petrus anschreien wird, wenn er sie nicht durchlassen will. Dabei dachte ich noch wenige Minuten zuvor, als ich Petri Nachfolger Benedikt XVI. zuhörte, dass er es mir mit ein wenig Geduld weismachen könnte, dass man nur innerhalb der Kirche ein wirksamer Friedens- und Liebesbote sein kann (fern des Weinstocks wird die Rebe wertlos, man „wirft sie ins Feuer und sie verbrennen“ … was für ein hartgesottener Gleichniswähler dieser Papst doch ist), zumindest, wenn ich nur mehr Zeit im Weinstock verbrächte, in des römischen Bischofs direkter Umgebung, im apostolischen Palast im Vatikan, zumindest, sofern man dort verschont ist von dieser völlig beschissenen Christen-Popmusik, die im Olympiastadion lief, und verschont von schlangestehenden Katholiken.

23. September 2011 00:45










Gerald Koll

rowantree with rowanberries

21. September 2011 13:43










Mirko Bonné

Rhyl

„The Greatest Circus on Planet Earth“

Das Meer und der abgegrabene Strand,
die alten Hotels der Promenade, leer,
ausgestorben Spielhallen, Spaßbuden.
Die Wirklichkeit in Rhyl –, elektrisch,
offshore eingespeist in ein von jeher
erloschenes Netz. Das Hohngelächter
der Seemöwen, Untergangsunterhaltung.

*

21. September 2011 10:28










Sylvia Geist

Wiederfund (15): Das zweite und das dritte Treffen mit Leonora Carrington

Was war das für eine freudige Verwunderung, ihr in der Surrealismus-Ausstellung der Vancouver Art Gallery zu begegnen, in einem imaginären Raum, der fast genau jenem glich, in dem bald darauf das dritte Treffen stattfinden sollte: Majestätische Gestalten mit Tierköpfen bereiten in einem großen hellen Saal ein Festmahl vor, und für mich besteht kein Zweifel daran, dass es sich um das Fest im Haus der Angst handelt, bei dem ich gestern Zaungast war, obgleich das Parkett auf dem Bild anders als in der Kurzgeschichte nicht aus goldgefassten Türkisen besteht. Ansonsten aber … ich „hatte den Eindruck, dass sämtliche Pferde der Erde bei diesem Fest zugegen waren.“
Da es das Haus der Angst ist, ist dieselbe natürlich die Gastgeberin, und in der Geschichte verkündet sie der wie in jedem Jahr versammelten stocksteifen Festgemeinde, sie habe dreihundertfünfundsechzig Tage darüber nachgedacht, wie sie das Ereignis vervollkommnen könne und sich endlich ein neues Spiel ausgedacht. Das geht so:

„Ich werde selbst das Amt des Schiedsrichters übernehmen, und wer gewonnen hat, entscheide ich. Ihr müsst alle so schnell wie möglich von einhundertzehn bis fünf zählen und dabei an euer eigenes Schicksal denken und Tränen für jene vergießen, die vor euch dahingegangen sind. Gleichzeitig müsst ihr mit dem linken Vorderhuf den Takt zu den Wolgaschiffern, mit dem rechten Vorderhuf zur Marseillaise und mit den beiden Hinterbeinen zu Wo bist du, meine letzte Sommerrose klopfen. Ich habe mir noch ein paar andere Einzelheiten ausgedacht, aber die habe ich dann weggelassen, um das Spiel zu vereinfachen. Lasst uns jetzt anfangen, und vergesst eines nicht: Ich kann zwar vielleicht nicht den ganzen Saal im Auge behalten, aber der liebe Gott sieht alles.“*

Gesellschaftsspielregeln ohne Sinn und Verstand (wenn man von ihrer Wirkungsamkeit hinsichtlich sämtlicher Machtverhältnisse absieht) und diffuse Drohungen: Ich erinnere mich an kaum eine amüsantere Übersetzung dieser Instrumentarien, die aus der Burleske des Alltags den ganz normalen, nichtsdestoweniger drangvollsten Wahnsinn machen können.
Leonora Carrington hingegen kannte zwar den Wahnsinn – und erlebte einige schreckliche Monate in einer spanischen Anstalt, nachdem sie 1940 binnen einer halben Stunde ihr gemeinsam mit Max Ernst ausgestaltetes Haus in Frankreich und damit auch ihre dort entstandenen Werke hatte verloren geben müssen und bevor sie nach Mexiko ging – , Angst aber kaum, jedenfalls als Künstlerin. André Breton nannte sie eine Hexe, und ich bin geneigt, ihm zu glauben. Zunächst vor allem in Verbindung mit Ernst als Bildende Künstlerin hervorgetreten, schrieb sie in drei Sprachen, neben ihrer englischen Muttersprache in zum Teil bizarrem Französisch wie auch in spanisch. In ihrem Werk verarbeitete sie u.a. Anregungen aus der Alchimie, keltische und mesoamerikanische Mythen und die Theorien C.G. Jungs, die dank Carringtons überbordender, das Groteske, das Grausame und – immer – das Schöne einschließender Phantasie eine einzigartige Textur eingehen.
Soviel in Kürze zum zweiten und zum dritten Treffen. Das erste war etwas weniger konventionell und fand vor ein paar Jahren in einem Traum statt. Der spielte im Jenseits, wo es aussah wie in der Lobby eines mäßig freundlichen Hotels, in der jedoch zu meinem großen Glück alle bis dahin Gegangenen zugegen waren, die ich gekannt hatte, also auch Frau Carrington, da ich sie nämlich nun kenne und der Traum sich ja auf Kommendes richtete. Durch meine Erinnerung an ein ihr auffallend ähnliches Gesicht dort wird diese Behauptung zwar nur schwach gestützt, sie würde ihr aber trotzdem gefallen, zumal ich dabei die Zeit als nichts weiter zur Kenntnis nehme denn als einen Ochsen, der im Kreis läuft, langweiligerweise nur im Uhrzeigersinn. Und als Hexe, die gern nach Rezepten des 16. Jahrhunderts kochte und sich laut Breton einmal in einem Restaurant sowie in aller Seelenruhe die Füße mit Senf bestrich, gefällt es ihr bestimmt erst recht.

* Leonora Carrington: Die Windsbraut – Bizarre Geschichten. kleine bücherei_nautilus, 2009

17. September 2011 17:15










Thorsten Krämer

Erinnerungen an das Jahr 2011

Es war der Sommer der Revolten. Wir waren nur
noch on. Wir lasen, schauten, staunten. Es ging
ein Wind durch jede Meinung. Wir waren

Lesben, trugen Schleier, hielten vor dem Monitor
die Luft an. Es brannte überall. Die Belastbarkeit
der Netze war ein Thema. Wir lernten stündlich

neue Namen. Es fielen Schüsse, Panzer rollten
daumengroß durch unsere Vormittage. Wir kamen
nicht mehr mit. Es wurde spät. Das Material blieb

liegen. Die Plätze waren weiterhin besetzt. Wir
buchstabierten Immersion. Die Dienste wurden
eingestellt. Wir demontierten Herrschende

mit wunden Fingerkuppen.

15. September 2011 12:47