Andreas Louis Seyerlein

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16.22 – Meine neue Schreibmaschine ist leicht und flach, ihr Atem geht leise. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter meinem Hemd verbergen könnte, niemand würde sie bemerken. Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Maschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. – Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? L i m a. Wie viele Male wird es heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort L i m a, das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als das selbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. – stop

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13. September 2011 17:23










Gerald Koll

Es ist Erntezeit

7. September 2011 11:55










Gerald Koll

Die Meditation des Aikidokas Lewin im Jahr 1873

Noch eine und noch eine Reihe schritten sie ab. Schritten durch lange Reihen und kurze, mit gutem Gras, mit schlechtem. Lewin hatte jedes Zeitgefühl verloren und wusste überhaupt nicht mehr, ob es spät war oder früh. In seiner Arbeit vollzog sich nun eine Veränderung, die ihm riesiges Vergnügen bereitet. Mitten in der Arbeit gab es Minuten, da vergaß er, was er machte, ihm wurde leicht, und in diesen Minuten bekam er seine Reihe fast so gleichmäßig und gut hin wie Tit. Sobald ihm aber einfiel, was er machte, und er sich erneut bemühte, es besser zu machen, spürte er gleich wieder die ganze Last der Arbeit, und die Reihe wurde schlecht. (…)
Je länger Lewin mähte, desto öfter spürte er die Minuten der Entrückung, wobei nicht mehr die Arme die Sense schwangen, sondern die Sense den seiner selbst bewussten, lebensvollen Körper hinter sich herzog und wie durch Zauberei, ohne Gedanken daran, die Arbeit sich von allein machte, richtig und sorgfältig. Das waren die wohligsten Minuten.

Gutsherr Lewin geht während der Heumahd, des ersten Schnitts im Frühsommer, seiner Leidenschaft nach und reiht sich ein in die Sensen schwingenden Arbeiter.

(Zitiert aus: Lew Tolstoi: Anna Karenina. Teil 3, Kapitel IV/V. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze.)

1. September 2011 09:06










Mirko Bonné

Libellenbrief

Fahrige Fremde, die auftaucht
im Dunst als die Verkörperung
des Dunsts, hat sie, wie ich,
die Jugend versäumt? Lernte
kein Griechisch, aß nicht täglich
einen Apfel, sondern schwirrte.

Der Bewegungen der Pappeln
folgen ihre Manöver. Augen –
Augen – Tauperlen – Tau.
Sieht sie her, wird sie zackig,
Garten ihr Schwebflug, eckig,
o Briefkasten Sonnenfleck.

*

31. August 2011 15:21










Sylvia Geist

Am Rice Lake

Es wird nicht Abend in der Gegend,
den ganzen Tag lang tritt der aus

den Zedern auf den Asphaltpfad
in Lachen. Kojoten, wild auf Abfall,

Katzenjammer, Zank, die uns entgegen
waten. Langsam wie ein alter Wunsch

am Boden zieht der sommertrübe Schnee.
Ich will nicht wissen, wo ich wäre – komm

aus den Wipfeln auf die Lichtung
schwimmen. Nichts hat sich umgedreht,

die Dinge hängen an den Angeln
der zwei, drei Leute auf dem Steg,

die fernen Stimmen arbeiten an einer
Dankbarkeit, die lang nicht weit genug

und übers Wasser reicht. Ich werde nicht
auf seinen Rücken starren müssen.

29. August 2011 18:54










Andreas Louis Seyerlein

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2.08 – Nach heftigem Gewitterregen habe ich einen Kandinsky entdeckt im Park, eine nasse Raupe von so wunderbarer Zeichnung, dass ich sie in eine Streichholzschachtel setzte und mit nach Hause genommen habe. Sie lungert jetzt auf meinem Schreibtisch herum. Der Eindruck, dass sie nicht sehr begeistert ist, sobald ich mich mit einem Finger oder meinen Augen nähere, vielleicht wegen meines Anblicks oder weil es eigentlich dunkel sein müsste um diese Zeit, da doch Nacht geworden ist. Drohende Haltung, das heißt, gesenkter Kopf, Fühler derart zu mir hin ausgerichtet, als wären sie Hörner eines Stieres. Ihrem Rücken entkommen vier Quasten von gelber Farbe senkrecht einer ledernen Haut, die dunkel ist und zart liniert, wie die Handflächen eines Berggorillas. Zarteste Federn, sie blühen feuerfarben an den Flanken des Tieres, aber grüne, sehr kurze Beine, acht links, acht rechts. Manchmal fällt die Kandinskyraupe um. Sie liegt dann recht flach auf der Seite zur Schneckenzeichnung geworden. Ob ich sie mit etwas Banane an mich gewöhnen könnte? Oder mit Cole Porter vielleicht? Zwei Stunden Cole Porter, das sollte genügen. – stop

> particles

26. August 2011 00:46










Gerald Koll

Schnepfenjägerpaar mit Uhu

In der Nähe rief ein Uhu, und Laska schreckte auf, machte vorsichtig ein paar Schritte und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt. Jenseits des Flüsschens war ein Kuckuck zu hören. Er rief zweimal auf die gewohnte Weise kuckuck, dann wurde er heiser, beeilte und verhaspelte sich.
„So was! Schon ein Kuckuck!“ sagte Stepan Arkadjitsch und trat hinterm Gebüsch vor.
„Ja, ich höre.“ Lewin störte ungern die Waldesstille mit seiner ihm selbst unangenehmen Stimme. „Bald ist es soweit.“
Stepan Arkadjitschs Gestalt verschwand wieder hinterm Gebüsch, und Lewin sah nur noch das helle Flämmchen eines Zündholzes, gleich danach die rote Glut einer Papirossa und blauen Rauch.
Tschik! Tschik! klickten die Flintenhähne, die Stepan Arkadjitsch spannte.
„Was schreit denn da?“ Oblonskis Frage lenkte Lewins Aufmerksamkeit auf ein langgezogenes Klagen, als ob mit dünner Stimme ein mutwilliges Fohlen wieherte.
„Das kennst du nicht? Ein Rammler. Doch lass das Reden! Hörst du, sie kommen!“ Lewin schrie es beinahe und spannte die Hähne.

Zwei befreundete Männer auf der Jagd nach der entscheidenden Aussage bzw. Auskunft über das Befinden Kittys, jener Schwägerin Stepan Arkadjitschs (= Oblonski), der Lewin wenige Monate zuvor vergeblich seinen Heiratswunsch angetragen hat.

(Zitiert aus: Lew Tolstoi: Anna Karenina. Teil 2, Kapitel XV. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze.)

21. August 2011 18:06










Mirko Bonné

Paar mit Uhu

Wir besprachen uns
bei Rotwein und blauem Öl.
Es ging um Worte. Wir blieben
dabei und kamen nicht
darüber hinaus.
Blaues Paar,

jeder für sich
sucht den anderen
am eigenen Bildrand.
Beide wollen den Kreis,
der ausgeht von einem,
einschließt Betrachter,
mündet in das Auge
dessen, der liebt.

Als ich hinausging,
hast du hinter dem Fenster
ein paar feurige Augen gemalt,
und hier, auf dem Feldweg,
keinen Steinwurf entfernt,
rief der Uhu, weise
meinte er uns.

*

18. August 2011 20:32










Hans Thill

Die fünfte Wand im Raum ist die Leinwand

»Anfangs malten sie nebeneinander auf dieselbe Leinwand (the pianistic painting). Manchmal malte einer über dem anderen (the totem painting); manchmal hatte einer allein ein langweiliges Bild gemalt und der andere übermalte es mit einem lustigen Bild (the biksemad-and-egg painting). Manchmal hatte einer allein ein lustiges Bild gemalt und der andere übermalte es mit einem lustigen Bild (the stratificated painting). Sie behaupten, niemals habe einer ein langweiliges Bild auf das langweilige Bild des anderen gemalt (deshalb bleibt dieses System ohne Namen). Aber die Lösung aller Lösungen ist die simultane Mischung ganz ohne Verortung im Raum (the jam-session-painting).«
Christian Dotremont über die Malexperimente von Pierre Alechinsky und Walasse Ting im Jahr 1963
in: Christian Dotremont, Peintures à quatre mains II, in: »L´Arbre et L´Arme«, Galilée, Paris 2007, Seite 88-89

18. August 2011 10:59










Thorsten Krämer

Wetterverhältnisse 2011

Es regnet, und dann wird es schlimmer:
Der Regen findet keinen Schluss,
Fast so, als ob er regnen muss.
Es regnet, regnet einfach immer.

(für Ror Wolf)

12. August 2011 13:53