Mirko Bonné

Libellenbrief

Fahrige Fremde, die auftaucht
im Dunst als die Verkörperung
des Dunsts, hat sie, wie ich,
die Jugend versäumt? Lernte
kein Griechisch, aß nicht täglich
einen Apfel, sondern schwirrte.

Der Bewegungen der Pappeln
folgen ihre Manöver. Augen –
Augen – Tauperlen – Tau.
Sieht sie her, wird sie zackig,
Garten ihr Schwebflug, eckig,
o Briefkasten Sonnenfleck.

*

31. August 2011 15:21










Sylvia Geist

Am Rice Lake

Es wird nicht Abend in der Gegend,
den ganzen Tag lang tritt der aus

den Zedern auf den Asphaltpfad
in Lachen. Kojoten, wild auf Abfall,

Katzenjammer, Zank, die uns entgegen
waten. Langsam wie ein alter Wunsch

am Boden zieht der sommertrübe Schnee.
Ich will nicht wissen, wo ich wäre – komm

aus den Wipfeln auf die Lichtung
schwimmen. Nichts hat sich umgedreht,

die Dinge hängen an den Angeln
der zwei, drei Leute auf dem Steg,

die fernen Stimmen arbeiten an einer
Dankbarkeit, die lang nicht weit genug

und übers Wasser reicht. Ich werde nicht
auf seinen Rücken starren müssen.

29. August 2011 18:54










Andreas Louis Seyerlein

~

2.08 – Nach heftigem Gewitterregen habe ich einen Kandinsky entdeckt im Park, eine nasse Raupe von so wunderbarer Zeichnung, dass ich sie in eine Streichholzschachtel setzte und mit nach Hause genommen habe. Sie lungert jetzt auf meinem Schreibtisch herum. Der Eindruck, dass sie nicht sehr begeistert ist, sobald ich mich mit einem Finger oder meinen Augen nähere, vielleicht wegen meines Anblicks oder weil es eigentlich dunkel sein müsste um diese Zeit, da doch Nacht geworden ist. Drohende Haltung, das heißt, gesenkter Kopf, Fühler derart zu mir hin ausgerichtet, als wären sie Hörner eines Stieres. Ihrem Rücken entkommen vier Quasten von gelber Farbe senkrecht einer ledernen Haut, die dunkel ist und zart liniert, wie die Handflächen eines Berggorillas. Zarteste Federn, sie blühen feuerfarben an den Flanken des Tieres, aber grüne, sehr kurze Beine, acht links, acht rechts. Manchmal fällt die Kandinskyraupe um. Sie liegt dann recht flach auf der Seite zur Schneckenzeichnung geworden. Ob ich sie mit etwas Banane an mich gewöhnen könnte? Oder mit Cole Porter vielleicht? Zwei Stunden Cole Porter, das sollte genügen. – stop

> particles

26. August 2011 00:46










Gerald Koll

Schnepfenjägerpaar mit Uhu

In der Nähe rief ein Uhu, und Laska schreckte auf, machte vorsichtig ein paar Schritte und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt. Jenseits des Flüsschens war ein Kuckuck zu hören. Er rief zweimal auf die gewohnte Weise kuckuck, dann wurde er heiser, beeilte und verhaspelte sich.
„So was! Schon ein Kuckuck!“ sagte Stepan Arkadjitsch und trat hinterm Gebüsch vor.
„Ja, ich höre.“ Lewin störte ungern die Waldesstille mit seiner ihm selbst unangenehmen Stimme. „Bald ist es soweit.“
Stepan Arkadjitschs Gestalt verschwand wieder hinterm Gebüsch, und Lewin sah nur noch das helle Flämmchen eines Zündholzes, gleich danach die rote Glut einer Papirossa und blauen Rauch.
Tschik! Tschik! klickten die Flintenhähne, die Stepan Arkadjitsch spannte.
„Was schreit denn da?“ Oblonskis Frage lenkte Lewins Aufmerksamkeit auf ein langgezogenes Klagen, als ob mit dünner Stimme ein mutwilliges Fohlen wieherte.
„Das kennst du nicht? Ein Rammler. Doch lass das Reden! Hörst du, sie kommen!“ Lewin schrie es beinahe und spannte die Hähne.

Zwei befreundete Männer auf der Jagd nach der entscheidenden Aussage bzw. Auskunft über das Befinden Kittys, jener Schwägerin Stepan Arkadjitschs (= Oblonski), der Lewin wenige Monate zuvor vergeblich seinen Heiratswunsch angetragen hat.

(Zitiert aus: Lew Tolstoi: Anna Karenina. Teil 2, Kapitel XV. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze.)

21. August 2011 18:06










Mirko Bonné

Paar mit Uhu

Wir besprachen uns
bei Rotwein und blauem Öl.
Es ging um Worte. Wir blieben
dabei und kamen nicht
darüber hinaus.
Blaues Paar,

jeder für sich
sucht den anderen
am eigenen Bildrand.
Beide wollen den Kreis,
der ausgeht von einem,
einschließt Betrachter,
mündet in das Auge
dessen, der liebt.

Als ich hinausging,
hast du hinter dem Fenster
ein paar feurige Augen gemalt,
und hier, auf dem Feldweg,
keinen Steinwurf entfernt,
rief der Uhu, weise
meinte er uns.

*

18. August 2011 20:32










Hans Thill

Die fünfte Wand im Raum ist die Leinwand

»Anfangs malten sie nebeneinander auf dieselbe Leinwand (the pianistic painting). Manchmal malte einer über dem anderen (the totem painting); manchmal hatte einer allein ein langweiliges Bild gemalt und der andere übermalte es mit einem lustigen Bild (the biksemad-and-egg painting). Manchmal hatte einer allein ein lustiges Bild gemalt und der andere übermalte es mit einem lustigen Bild (the stratificated painting). Sie behaupten, niemals habe einer ein langweiliges Bild auf das langweilige Bild des anderen gemalt (deshalb bleibt dieses System ohne Namen). Aber die Lösung aller Lösungen ist die simultane Mischung ganz ohne Verortung im Raum (the jam-session-painting).«
Christian Dotremont über die Malexperimente von Pierre Alechinsky und Walasse Ting im Jahr 1963
in: Christian Dotremont, Peintures à quatre mains II, in: »L´Arbre et L´Arme«, Galilée, Paris 2007, Seite 88-89

18. August 2011 10:59










Thorsten Krämer

Wetterverhältnisse 2011

Es regnet, und dann wird es schlimmer:
Der Regen findet keinen Schluss,
Fast so, als ob er regnen muss.
Es regnet, regnet einfach immer.

(für Ror Wolf)

12. August 2011 13:53










Gerald Koll

urnäschs ende

Schnecken mit Nachbarin

nicht lange, und schon hatten die waldschnecken die ferne kusine miss mandys in einen weichen mantel geschmiegt. als was würde sie beim nächsten regen herausschlüpfen?

„die erste weiße flagge, die, wenn man sie schwenkt, bewirkt, dass der gegner aufgibt.“ (Jan aus Lausanne über die olfaktorische wirkung von aikido-anzügen nach dem einwöchigen sesshin)

6. August 2011 20:31










Gerald Koll

die ferne kusine in urnäsch

die verspätung der fernen kusine zum tee bei miss mandy in urnäsch …

die ferne kusine in urnäsch

beruhte allerdings auf ereignissen, die schauerlich genug waren.

5. August 2011 19:26










Sylvia Geist

Nachtausgabe

Verschüttete Milch

Die Piazza liegt parat, doch die Audienz,
vom Amt verkauft als Tête-à-tête und
eben überstanden, ging verloren im Blackout.
Die Tasche fehlt, ihr dünner Griff der Faust.

Zurückverdammt, und schnell, bevor
die Prozession beginnt, ein Purpuralp aus
Samt, Verhängen, schwindelnden Emporen,
die apostolischen Portiers perfekt versteckt
in monochrom gesponnenen Passionen –

Die Tasche ist noch da
und heil unter dem leeren Stuhl,
die Heiligkeit pausiert. Das Kinderding:
Sein weißes Kunststoffmäulchen
gähnt, sein Babyrachen, harmlos, zahnlos,

loht, dass ein Myriadenwurf von Mäusen flieht,
entrinnt übern verrohten Teppich, rennende Kohorte
und geronnen, Tropfen, die es zur Schwelle zieht.

5. August 2011 00:49