Mirko Bonné

301

Ich glaub, die Welt ist kurz –
Und Kummer – absolut –
Kaum wem geht’s gut,
Ja, und das heißt?

Ich glaub, wir könnten sterben –
Was noch so voller Leben
Bleibt dem Verfall ergeben,
Ja, und das heißt?

Ich glaub, im Himmel droben –
Wird alles aufgewogen –
Neu ein Vergleich gezogen –
Ja, und das heißt?

Emily Dickinson

*

12. April 2011 12:12










Sylvia Geist

Wiederfund (14): Zu den Fortschritten in der Gesundheitspolitik

„Nachdem ich wusste, daß ich zu wenig Streptomyzin bekam, eine lächerliche Menge und also soviel wie gar nichts, hatte ich einen Vorstoß bei dem Triumvirat unternommen, wurde aber sofort abgewiesen, meine Forderung bezeichnete man als Unverschämtheit, ich wisse nichts, sie wüßten alles, während ich selbst damals bereits, weil es ja meine Existenz betroffen hatte, nicht mehr der Dümmste auf diesem Gebiete der Lungenheilkunde gewesen war und genau wußte, daß meine Behandlung eine größere Menge Streptomyzin erforderte. Ich bekam sie aber nicht, weil ich gesellschaftlich eine Null war. Andere bekamen, was sie brauchten, sie hatten die Reputation, die Fürsprache, einen Beruf, der mehr Eindruck machte. Das Streptomyzin wurde nicht nach der Notwendigkeit ausgegeben, sondern nach den schäbigsten Gesichtspunkten, die sich denken lassen. Nicht ich allein war im Nachteil. Es gab die Hälfte der Bevorzugten, und es gab die andere Hälfte der Benachteiligten.“

Zur Vermeidung von Missverständnissen: Der Textauszug ist Thomas Bernhards autobiographischer Schrift „Die Kälte. Eine Isolation“ entnommen. Darin beschreibt er seine Erfahrungen in einer österreichischen Lungenheilstätte um das Jahr 1950 herum.

Thomas Bernhard: Die Kälte. Eine Isolation, dtv, 2011

11. April 2011 12:04










Thorsten Krämer

Abschied vom Holodeck

4. Zur gleichen Zeit, in einem

parallelen Universum: Prozessarbeit, finale Vorbereitungen
für den Äonenwechsel. Schütteln, Tanzen. Der Atem hält
die Welt in Schach. Sitzen, Schweigen. Erst letzte
Woche war ich ein Sternennebel.

                                                           Das fortgeschrittene
Bewusstsein beendet seine Liaison mit dem Schmerzkörper.
Das Tolle daran: alles wird gut, jetzt. Der Kosmos lächelt zurück.

8. April 2011 17:35










Mirko Bonné

Wir leben

Hongkong, China, im April 2011. Ai Weiwei, Künstler, Regimekritiker und seit kurzem Häftling, hatte vor, von Hongkong aus in die Bundesrepublik zu fliegen, um hier ein Atelier zu beziehen, in dem sich ohne Repressalien arbeiten ließe.
Das Foto schoss Helga Tassonyi.

*

5. April 2011 08:56










Hendrik Rost

Auch ich bin begegnet worden

Und es geschah unter irgendwie gespenstischen Umständen. Ich lebte damals in Berlin, quasi inkognito in einer Wohnung, die von der Solitude unterhalten wurde. Keiner hatte meine Nummer, ich lebte mehr oder weniger im Zustand literarischer Verblödung vor mich hin und in den Tag hinein. Das Telefon klingelte und ich nahm ab: „Kling hier“, kam es aus dem Hörer. Ich war baff und sprachlos. Kling redete, und es wirkte so, als hätte er tatsächlich meinetwegen angerufen. Ich hörte ihm zu, er sprach von Heinz-Ludwig Arnold, der irgendetwas von mir wollte. Ich verstand nicht, was. Kling redete und erzählte mir, wie Lyrik sein müsse (ich habe es leider vergessen). Das Gespräch dauerte sicher eine halbe Stunde, mitten am Tage. Dann verabschiedete er sich. Wir verblieben in Verwirrung. Dann legte ich auf und sprang in die Spree.

4. April 2011 11:43










Sylvia Geist

Sturm

Meine Erinnerungen an Thomas Kling beschränken sich auf eine einzige Begegnung. Und die war eigentlich gar keine. Ich war damals Praktikantin in einem Literaturhaus in Berlin und genoss das Privileg, von meinem Arbeitsplatz gegenüber dem Chefschreibtisch so gut wie alles, was sich hinter den Kulissen abspielte, aus der Nähe, zugleich aber aus dem gesegneten Stand der Unwichtigkeit und damit der nahezu völligen Unsichtbarkeit heraus zu beobachten.
Einmal befand sich das ganze Haus schon am Vormittag in heller Aufregung. Auf meine verwunderte Frage, was denn los sei, antwortete mein Chef nur: „Kling.“ Aus seinem Tonfall sprach die Vorab-Erschöpfung eines Menschen, der weiß, dass er in den kommenden Stunden einem Naturereignis mit ungewissem Ausgang ausgesetzt sein wird. Abgesehen davon verstand ich nur Bahnhof.
Als Kling dann durchs Büro gefegt war, war mir manches klarer geworden. Doch mein Verständnis hielt sich immer noch in Grenzen, sowohl was die Selbstverständlichkeit betraf, mit der er die Kapitulation anderer vor seinem Temperament vorauszusetzen schien, als auch hinsichtlich des Verhaltens von Leuten, die es sonst gewohnt waren, in schwierigen Situationen souverän zu reagieren. Was ich an diesem Nachmittag beobachtete, sah Furcht zumindest zum Verwechseln ähnlich: Furcht, noch mehr falsch zu machen (denn offenbar war längst alles Mögliche falsch gemacht worden), Furcht, mit ein paar allzu treffenden Worten verletzt zu werden, Furcht vor einem Eklat. Ich fühlte mit, merkte, wie mir selbst der Blutdruck stieg, und bewunderte meinen Chef für seine Selbstbeherrschung (und hätte ihn doch noch mehr bewundert, hätte er sie fahren lassen – ich war eben jung).
Entsprechend ab- und angespannt ging ich abends zur Lesung. Dass sie mir unvergesslich geblieben ist, braucht keinem versichert zu werden, der je eine Kling-Lesung erlebt hat. Nie zuvor war ich Zeugin einer solchen Präsenz gewesen. Wir lauschten einem Menschen im Zustand der Hingabe. Der Auftritt, dem ich vorher beigewohnt hatte, war nicht etwa verständlicher, sondern was die Mühe, es zu verstehen, zu lohnen versprach, fand genau jetzt statt.
Mittendrin stand ein älteres Paar von seinen Plätzen in der ersten Reihe auf und schickte sich an, den Saal zu verlassen. Atemlos erwarteten wir ein Donnerwetter. Doch Kling sah nur kurz auf und sagte – nach dem Tornado im Büro überwältigend – milde, als verstehe nun er, dass nicht jeder jedem Ansturm standhalten könne: „Ja, gehen Sie ruhig. Und einen schönen Abend noch.“ Dann las, nein: rezitierte, stürmte, sang er weiter.

1. April 2011 14:51










Mirko Bonné

di feuerflex

Zur Erinnerung an Thomas Kling (5. Juni 1957 – 1. April 2005)

Hoch droben in einem der Mundsburger Drillingstürme, im damaligen Büro der Hamburger Kulturbehörde, sprach ich an einem Sommertag 1996, kurz bevor mein Sohn geboren wurde, zum ersten Mal mit Thomas Kling. Es war für mich ein furchteinflößendes Erlebnis, Kling auf der Raketenstation Hombroich anrufen zu müssen, damit, wie ich erst sehr viel später begriff, diese lästige Aufgabe der Kulturreferent von sich abschütteln konnte. „Wer sind denn Sie?“, fragte mich Kling denn auch und schob, ohne meine Antwort abzuwarten, nach, ich sei wohl nicht ganz bei Trost, ihn bei der Arbeit zu stören. „Also wer, bitte, sind Sie?“
Ich saß an der Fensterfront des Büros, blickte hinaus über die Stadt an einem vernieselten grauen Tag und sagte kleinlaut wie ein eingeschüchterer Hund, der verblüffenderweise sprechen kann, ich sei ein junger Hamburger Dichter und hätte die Aufgabe, zu seiner Lesung im Literaturhaus aus seinem neuen Gedichtband wände machn eine Einführung zu sprechen, di feuerflex würde ich sie nennen.
„Aha. Ein junger Dichter also“, sagte Kling. „Sie dichten also, Sie Jungspund, ja?“
„Gelegentlich.“
„Nun werden Sie mal nicht gleich frech, Sie Talent. Mit Dichtern oder mit Poeten nämlich rede ich für gewöhnlich nicht. Da hört für mich die Kommunikation fast augenblicklich auf.“
So ging es weiter, etwa zehn Minuten lang. Es hagelte Verunglimpfungen, Dispektierlichkeiten und bitteren Spott, doch so selbstgefällig arrogant die schneidende, nur wenig ältere Stimme daherkam, seltsamerweise war nichts davon wirklich verletzend.
Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, einer ausgeklügelten Panzerung gegenüberzustehen. Verbale Stachelformation. Ich konnte miterleben, wie in einem hochaufgerüsteten wehrhaften Fake militant aggressive Sprache als poetischer Molotov-Cocktail eingesetzt wurde, der Respekt einflößte und auf Abstand hielt.
Einmal, fünf oder sechs Jahre später, begrüßte mich Thomas Kling vor einem gemeinsamen Auftritt hinter der Bühne mit den Worten: „Wie sagte schon der Hauptmann von Köpenick? ‚So weit also wär’n wa jekomm‘!’“
Unser erstes Gespräch allerdings endete damals unsanft, mit einer Detonation. Nervös, wie mich sein Herumhacken auf mir gemacht hatte, spielte ich mit der auf dem Schreibtisch liegenden Beamtentastatur herum.
Kling, der das hörte, schnauzte mich durchs Telefon an: „Sagen Sie mal, Sie, schreiben Sie etwa, während Sie mit mir sprechen? Sind Sie noch zu retten?“

*

1. April 2011 10:24










Sünje Lewejohann

alles dir

bitte sehr: alles gehört dir.
mein frühstücksgedeck, mein garderobenplatz, mein schlüsselbund, sogar
mein seemannsgarn, der tabak und der pfeifenrauch.
nimm dir auch das geweih von der wand, den zierteller und
den ausgestopften hasen, sein pelz ist weich und sein blick
so froh.

geh liebster, es wird sich einiges finden. dein
langersehntes liebesnest, was davon bleibt, das nehme ich noch mit
in mein lausiges herz. wer will schon einen lächelnden hasen, das fragst du noch
ein wildes tier sollte immer nur grausam sein.

ich weiß ja, wie das leben spielt und siehts du, meine hände halte ich
noch immer ausgestreckt
auch das gehört dir, das sofakissen, dieser streifen ausgehhaut. ich
lahme nun, da kommt nicht mehr und das gehört dir auch.

31. März 2011 07:30










Björn Kiehne

Feldweg

Wolken treiben
durch die Pfützen –
Sand,
unter deinen Schritten.

Am Ackerrand,
gebeugtes Gras –
auf deinem Weg
in den Wald.

Dort,
wartet das Schweigen,
der Geruch feuchter Erde,
gefallenes Laub.

Du trägst Laub
in den Wald,
legst Blätter
unter Bäume,
atmest die
gefallenen Jahre
tief ein
in diesen Tag.

30. März 2011 13:43










Mirko Bonné

Psalm

LOL
FYI
OMG

FYI
LOL
OMG

OMG
LOL

LOL
FYI

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29. März 2011 11:33