Mirko Bonné

Die Kanonen von Sewastopol

Christian Saalberg

Aus: DIE KANONEN VON SEWASTOPOL (I – X)

I

Es ist wieder so weit.
Die Augen der Kanonen von Sewastopol schauen
   uns an und der Tod hüpft von Ast zu Ast.

Auf den Wegen unruhige Steine, schmelzende Sonnen und
   eine Zitadelle, die die weiße Fahne hißt.

Selbst die Karyatiden knicken zusammen, obwohl sie
   nichts mehr zu tragen haben, nur die leichte Last
Der Wolken und die Erinnerung an das Licht, sein
   zärtliches Fingerspiel.

Am Abend öffnet sich eine Muschel und zeigt ihre
   Perlennacht, die mit einem Seufzer die
Beseelten Ruinen verlässt.

Unterirdische Zwiegespräche und ein großer Durst
   nach Farben, bis ein langandauernder Regen die
Leere füllt, das große Loch zwischen den zwei Welten.

*

Aus: Christian Saalberg, Offenes Gewässer, zu Klampen Verlag, Springe 2005
und: Christian Saalberg, In der dritten Minute der Morgenröte, Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019

*

27. Februar 2022 13:00










Christine Kappe

24.02.

Es ist gerade mal eine Woche her, da kam mir die Idee, den ukrainischen Freunden meines Vaters einen Brief zu schreiben. Die wussten ja noch gar nicht, dass er gestorben war. Das Vorhaben war nicht einfach, denn man Vater hatte eine Tastaturbelegung für die kyrillischen Buchstaben gewählt, die ich nicht kannte. Mit Tricks und Rätselraten, ungefähr so wie beim Transliterieren mittelalterlicher Handschriften, bekam ichs endlich raus und beugte mich neugierig über die Landkarte. Bestimmt konnten sie mir auch sagen, was vorging in ihrem Land…

Heute hat Russland die Ukraine überfallen und die Briefe werden noch gar nicht angekommen sein. Wie gut, dass mein Vater diesen Krieg nicht noch erleben muss. Er liebte seine ukrainischen Freunde sehr. Die Ukraine war eine Parallelwelt für ihn gewesen, der seinen eigenen Vater im 2. Weltkrieg dort verloren hatte.

Liebe Nina aus Truskavietz, vielleicht liest Du ja diesen Text. Wollen wir nicht den Schüleraustausch wieder aufleben lassen, den mein Vater vor über 20 Jahren startete? Brauchte man damals noch irgendein Visum? Im Nachlass meines Vaters finde ich eins, im Din-A-5-Format, hellblau-filligran. Er hat es säuberlich abgeheftet. Dieser Ordner ist… Geschichte. Jetzt braucht man kein Visum mehr, sondern ein Wunder. Frieden. Hoffen wir, dass wir daran wieder anknüpfen können in absehbarer Zeit!

Das Gefühl, zu spät zu sein. Das Gefühl, die eigentlich wichtigen Sachen zu verdaddeln, auf einem Sofa, mit übergroßen Kissen. So suche ich ein Ende für dieses Gedicht (es ist ja auch mal wieder keins) und ein bisschen Schlaf. Aber die Zeichen stehen auf Sturm.

25. Februar 2022 00:43










Mirko Bonné

Kondopoga

Anfang Oktober Winterbeginn,
Birkenmoore. Birkenmoore
im Dunst der Zellulosefabrik,

Girlies auf Glitzerpumps
stöckeln über Schlaglöcher
zu einer Rostlaube im Garten.

Da lehnen Männer an dem Wolga
und kippen einem Schäferhund
vor der Baracke Wodka ins Maul.

Alle zehntausend Seen sind grau.
Groß wie ein Meer ist der Onega
und Murmansk einen Tag entfernt.

Bei der Holzkirche am Wasserfall
tosten zu Parteizeiten Baumstämme
wie Breschnews Panzer die Suna flussab,

wo jetzt der Ministerialbau steht,
wuchsen Hagebutten und Heckenrosen,
so war es. Aber jetzt ist es anders.

Eine Elchkuh ertrinkt, dazu fiepen
elektronische Autotürverriegelungen,
und vorbei wankt blau ein Trolleybus.

*

22. Februar 2022 21:20










Christian Lorenz Müller

Put woiny

Irgendwo bei Brjansk ging mein Opa
im Winter 41/42 von der Front nach hinten,
auf einem Knüppelweg
aus Birken, Kiefern, Kiefern, Birken
wo kleine, zähe Russenponys
die Schlitten mit dem Nachschub zogen.
Nach ein paar Kilometern schon
stand er vor einen Landser,
der zwischen Knüppeln lag,
Birke, Birke, Kiefer, ein Soldat,
er war so hart vom Frost,
dass selbst die Schlitten seinen Körper
nicht zerkuften, er hatte Eismeeraugen
und sein Mund war zugeweht vom Schnee.
Opa machte einen großen Schritt,
er hatte eine Nachricht in der Tasche,
an irgendeinen Offizier,
der in einer Kleinstadt
in einem warmen Keller saß.

Zwei Tage später, als mein Opa
erneut nach vorne musste,
sah er, dass der Landser
noch auf der Rollbahn war,
die Augen schwarz vom Schmutz,
den Mund ganz voll mit Dreck,
so lag er da, fast schon so dunkel
wie ein Kiefernstamm, und wieder
stieg er über ihn hinweg,
lief an die Front, wo in zerstörten Dörfern
die Ponys hungrig und erschöpft
das Dachstroh von den Isbas fraßen.

Путь войны/Put woiny – Der Weg des Krieges
Исба/Isba – Russisches Holzhaus

 

16. Februar 2022 09:52










Markus Stegmann

Brombeeren

Von Säcken Zement Kartoffeln und Tabak
erzähle ich mir gerne von Lastwagen auch
mit zu viel Krieg beladene Aussicht
über Winterfelder Balkongeländer
müsste ich streichen vergessene
Plastikblumentröge traurige
Miniaturschiffe auf das Riff der
Vergangenheit gelaufen in Schlaufen
verlegen sich Wind und Wasser heute
vermengen sich mit meinen Fingern als
die Tage noch andere Tage waren
und meine Hände auch

Nur nützen die Schlaufen den Worten
wenig die ich über die Felder schwanken sah
die getrockneten erinnerten Gegenden
mit ihren Adlern und meinen Schmerzen
im Rücken fahre ich gerne fort mit Reben und
Brombeeren die ich auf kleine Leinwände patsche
dort wollen sie lieber unvollständig bleiben
und sollen es gerne sein

12. Februar 2022 11:24










Mirko Bonné

Zerlegung des Zerberus

Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

*

27. Januar 2022 21:36










Andreas H. Drescher

Das was von der Topographie der Gerste
noch in die verschlossene Scheune passt
noch in die Scheune als Kassenabschluss

Das diese Idee dieser kompakte Schaden der
noch vor dem ersten Rotor eingezogen war
noch vor dem erstgeborenen Elektrozaun

Das erholt sich nun nicht mehr
Das versteckt sich in sich selbst

Noch rütteln nur Kuckuckshummeln daran
Noch nicht die Angelruten von Hornissen

26. Januar 2022 21:35










Andreas Louis Seyerlein

~

15.18 UTC — Winter. Landschaft tief verschneit. Ich erinnere Vater, wie er auf den Balkon unseres Hauses ein Kamerastativ stellt. Der Fotoapparat, den er auf das Stativ schraubte, richtete seine Augenlinse zum Garten hin, auf eine unberührte Decke von Schnee über einem Teich, der sich kaum wahrnehmbar durch eine leichte Vertiefung abzeichnete unter dem glitzernden, kalten Tuch. Von dem Fotoapparat aus führte ein feines Kabel in Vaters Arbeitszimmer. Das Kabel war mit seinem Computer verbunden, der dem Fotoapparat jede halbe Stunde einmal Anweisung gab, eine Aufnahme des Gartens anzufertigen. Viele Jahre später entdeckte ich eine Serie dieser Aufnahmen. Spuren sind dort zu erkennen einer Katze, die selbst nicht zu sehen ist. Der Kopf einer Amsel weiterhin, die nach ihrer Landung im Schnee versunken zu sein schien. Kurz darauf eine weitere Katze, die der Spur jener unsichtbaren, früheren Katze folgt. Auch Mutter hat ihren Auftritt. Ihr Kopf ist zu erkennen, und ihre Hände, die in den Bildausschnitt ragen. Sie wirft Nüsse in den Schnee. Eine weitere Aufnahme, es ist vielleicht später Nachmittag, zeigt Vater inmitten seines Gartens. Er schaut hoch zur Kamera. — stop

> particles

20. Januar 2022 21:01










Konstantin Ames

s Wegeverhalten

Trampeln auf deiner, meiner Gesundheit herum.
Nennen s Spaziergang. Als ob Deutschreicher
Österländer das könnten! Sind für die Theorie
zu infantil, verkörpern lieber Ellenbogen, Oden, Essays.

Verscherbeln s letzte Rilkesilber, tanzen Raben an, Kumpels
im Kunstpelz belobigen ihre Organe, rücken ihre Zitrönchen
zurecht; man sieht die Wunder kaum vor lauter Hörnchen.

Ging das letzte Impflicht auf, würde dieser prosaische
Handkäs hier ein kunstvoll Lied von Walle Sayer.

20. Januar 2022 17:56










Alexander Peer

Parasitär

Ein Virus bietet eine umso größere
Projektionsfläche, je kleiner es ist.

Es ist vollkommen vom Wunsch
nach Symbiose beseelt.
Und sie gelingt.

Ein Gast,
der Gastfreundschaft
missbraucht.
Der Preis
wird rasch
in Rechnung gestellt.

Weil der Wirt für immer schließt
oder der Rauswerfer ruft:
„Ich habe fertig!“

 

20. Januar 2022 11:45