Mirko Bonné

Prinsentuin

alles van waarde is weerloos
Lucebert

Alles Wertvolle ist wehrlos,
24 riesige Leuchtbuchstaben
auf einem Versicherungsgebäude
in der Nacht über Rotterdam,

inzwischen stehen sie bestimmt,
vielbestaunt, unter Denkmalschutz,
einmal im Monat steigt einer hinauf
und prüft Schweißnähte und Strom.

Oder sie wurden abgerissen, wehrlos,
aber was heißt das, da die Poesie
auf Erden nie tot ist. In Amsterdam
rollten ein Jahr lang die Müllwagen

beklebt mit Gedichten durch die Stadt,
und zu Lesungen, für die sie warben,
an den Grachten unter Zitterpappeln,
kamen auch Müllmänner in Scharen.

Einmal stand ich am Ufer der Aa
in Groningen vor einer Hebebrücke,
und als sie hochfuhr, war ein Vers
von Kopland auf dem Stahl zu lesen,

die Dinge sind nicht, wie sie zu sein
scheinen, aber sind auch nicht anders.
Was sind sie, fragte ich mich dann
auf der Brücke, wehrlos, wertvoll,

und fand die Antwort an der Wand
des Pissoirs im Prinsentuin: Poesie
ist alles, selbst was zu Poesie
erklärt wird, ist schon Poesie.

*

15. August 2009 14:54










Thorsten Krämer

Kolbhalle

Der Schlafmangel, die Vorfreude.

Die endlos lange Gästeliste bei denkbar günstigem Eintritt, die Afrikaner
aus der Nachbarschaft, der Bauwagen, die drei Mann an der Theke, die
alle keinen Plan haben, die Sommerluft, die Couscous-Mädchen
ganz in Schwarz, die Stolperfalle Feuerstelle, die Tische, die
Bänke, und jemand sagt das Wort psychotisch.

Der DJ im Anzug, das Wasser umsonst, der Schäferhund mit dem rot
leuchtenden Auge, das Gerede, das Herumsitzen, das genaue Ausloten
der Schallverhältnisse, die eine Musik, die andere Musik, die Suche
nach dem dritten floor, das Fleisch-Mobile, das Tanzen.

Das Tanzen.

Die Handyfilme, der Engländer, der im Bogen pinkelt, das Betrunkensein
als Kunstform, die erstaunlich bunten Lichter, die Frau, die auftaucht
und verschwindet, das Gewusel, die verbrannte Hand, die Stahltür
unter Strom, und plötzlich stehen da die 80er, mit grauem
Zopf, und sagen: Hier sind ja viele scharfe Bräute.

Das Künstlergefasel, die Beschimpfungen, das Geräusch des Regens
unter den Sonnenschirmen, die Gesichter, die Plastikbecher auf dem
Boden, der Rollstuhl zum Ausruhen, die Soba-Mädchen ganz in
Schwarz, das immer allmählichere Vergehen der Zeit.

Die Gegenwart, das Wachsein.

(für Christian Bernhardt)

13. August 2009 10:46










Björn Kiehne

Mit meiner Hände Arbeit

Der Monitor erlischt.
Über dem Schreibtisch
machen sich meine Gedanken
auf den Heimweg.
Die eine Frage aber bleibt:
Ob es reicht?
Kaffeestimmen stolpern durch die Tür.
Der Bildschirm starrt.
Was habe ich heute geleistet?
Einmal
die Welt
um sich
selbst
gedreht.

11. August 2009 20:32










Hans Thill

Mundorgel: Madagaskar

hoi die Pflanzen übersprangen
unsere Zäune und in den Drähten
waren das Insekten? Wir lauschten
am Mast Honig im Ohr Käpten
der am Tropf hängt Windsammler
mit einem Schlag beim weißen
Geschlecht das wünschte er sich hier
Staub nahmen wir von der Erde
preßten ihn zu Öl

6. August 2009 10:29










Hendrik Rost

Überlieferung

Der älteste Mensch der Welt ist müde
geworden in mir, er hat seine Gründe,
Faulheit, Krankheit, Liebe, Krise –
aber das geht niemanden etwas an.
Ich lege mich hin mit ihm, Fernseher aus,
Nachbarn verreist. Das Bett ist gut, müde
ist gut, ich selbst bin alt für den Moment.
Keiner Zeitung würde ich sein Geheimnis
verraten: Fisch, Leinsamen, Lebenslust
oder jedes beliebige Mittel zu überleben.

Er wird mich wecken, wenn er will, still
ist es, still, ich könnte sterben jetzt oder
leben trotz allem, was er durchgemacht hat.
Aber das geht niemanden etwas an im Moment.
Er rekelt und streckt sich in meinem Körper
wie in einer Tierhaut, gejagt, erlegt, geliebt.
Was dann folgt, ist der schwierigste Teil.
Seine Erfahrung, sein Schlaf, mein Verfall.

5. August 2009 15:12










Mirko Bonné

Die Kinder der Sommerinseln

The ball I threw while playing in the park
Has not yet reached the ground.

Dylan Thomas

Hier sah ich im Scheinwerferlicht die Nacht;
ich war ihre unsichere Mitte, elf oder zwölf,
pflügte auf dröhnenden Gefährten Dunkel um
und verschlang am Tisch der Bauern zu Mittag
Kaninchen. Wir waren Sommerinselkinder,
gelandet mit den Glanzstaren aus Afrika;
Ameisen im Fleisch, in Venen die Scheu,
türmte ich Strohbarren auf Goldstoppelfelder.

Hier fuhren wir mit Rucksäcken zur See;
als Küste bauten wir das Zelt in den Regen
und lasen, 16, 17, zu Dosenravioli Fern Hill.
Fähren hießen nach Präsidenten und Prinzen
und setzten uns jährlich von hier über den Belt
nach Seeland mit Ziel Kattegat; wo Meer war,
wird wieder Meer werden, schrieb ich ins Blaue
und nahm die Insel mit auf jede neue Insel.

Immer noch landen hier Zugvögel und fliegen
Wetter heran und vorbei; nicht alt, nicht jung, 44,
spiel ich im Kleegras unter dem Schwalbentor
Raubtierfütterung mit den Kleinen, altes Brot
den Kaninchen. Die große Brücke wird gebaut,
der Kongo kauft die Schiffe, Durchgangsverkehr
schleust die Kinder der Sommerinseln vorüber
ins Licht; Fehmarn farvel! Hier lag die Nacht.

*

5. August 2009 10:08










Marjana Gaponenko

Piotr II

(essentia)

In Erwartung verbringst du dein Leben,
Tage, mit denen du es misst, doch bedenke:
so wie die Liebe kein Ende kennt und keinen Anfang,
beständig gleich , so wahr es keine erste Liebe gibt und keine letzte,
so wahr sie uns niemals verlässt, so ist der Tod ein Scherz.

Du siehst dich um die Bäume schleichen,
sie wie starre Badende umfassen. Du siehst sie glühen,
zu Asche niederbrennen und dir entgegen wachsen,
damit du auf sie warten kannst.

Ein Bäumchen die Mutter, ein Bäumchen der Vater.
Durch sie kamst du zu dir, wer auch immer du bist.
Doch bedenke: du kannst es nicht sein,
denn dein Herr ist mit dir. Wer er ist, willst du wissen.
Es lässt sich nicht merken – so gut weißt du es.

3. August 2009 09:37










Björn Kiehne

Planet der Affen

Berlin, soviel Sonnenbrille war nie!
Halb Europa auf die Bürgersteige gekippt.
Alle sind irgendwie schwanger,
tragen den Sommer unter milchleeren Brüsten.
Friedrichshain setzt die Sonnensegel,
bläst würzigen Rauch ins grelle Licht.
Überall Ich! Ich in den Morgenstunden, Ich in der Stadt,
Ich am Nachmittag, Ich in der Nacht.
Und: Ich tätowiert, Ich ganzkörperrasiert;
und: Hier ein Weibchen und da ein Kerl;
und: Uh, uuh, uuuh durch die Straßen ziehn,
Planet der Affen – Sommer in Berlin.

30. Juli 2009 23:29










Nikolai Vogel

Sehen, gesehen werden

Die vergessene Brille, über Nacht durch den Regen vom Festland genommen, mittags gefunden im Flussbett der Isar …

Die ausgedruckten neuen Passbilder, zugeschnitten von allen vier Seiten, verbergen sich noch, verlegt, schon bevor sie amtlich wurden …

30. Juli 2009 01:23










Kerstin Preiwuß

Brennstoff

Unser Haus ist von Geistern bewohnt, sage ich zu Hanna, aber sie schickt mich nur wieder nach Holz. Das ist ein längerer Weg, zum Holz und zurück, Hanna weiß das, ich habe es ihr schon oft gesagt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, so steht sie oft in der Küche, nimmt diesen Satz in den Mund und lutscht an ihm wie an einer Kirsche. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll mit all dem Holz, schon starrt es aus seinen Klaftern verschlagen nach mir, aber kein Tag gleicht dem anderen, sagt Hanna dann, wenn ich die vielen Mieten erwähne, die ich geschlagen habe, einmauern könnte man einen damit, aber es gibt auch eine andere Wärme, wenn es verbrennt.
Unser Haus ist von Geistern bewohnt, sage ich zu mir, und bin schon auf dem Weg zum Holz. Hanna ist ein Mutterkind, ein Muttertier, sagt sie selbst. Mitunter spricht sie unsere Kinder an wie jemanden, auf den man zählt. Den man erzählen muss, dann ist er in der Welt: Erst kam der Älteste, mit Schmerzen, dann kam die Mittlere, mir zur Hilfe, und zum Schluss der Jüngste, wie nebenbei. Wuchsen alle drei ganz regelmäßig heran, erst ging der Älteste zur Schule, dann ging die Mittlere ins Internat und unser Jüngster lernte aus. Flogen schließlich alle aus dem Haus: den Ältesten hat es in die Hauptstadt gezogen, die Mittlere an die Küste verschlagen, den Jüngsten in den Betrieb im Nachbarort. Ob man seine Kinder gut erzogen hat, erkennt man daran, dass sie sich in der Fremde bewähren, sagt Hanna immer dann, wenn sie ans Ende ihrer Aufzählung gelangt. Ich habe meine Kinder gut erzogen, den Ältesten mit Schmerzen, die Mittlere mir zur Hilfe und den Jüngsten nebenbei.
Unser Haus ist von Geistern bewohnt, sage ich zum Holz, wir schlagen doch nicht aus der Art. Dabei splittert es auf unter meinen Hieben und zerfällt zu Scheiten, mit denen ich Hanna und mir einheizen kann. Manche Scheite behalten ihre Augen, die darfst du nicht einmieten, die musst du mit dem Gesicht nach unten in die Kiepe legen, schärft Hanna mir jedes Mal vor dem Holzhacken ein. Die haben etwas gesehen und wir verbrennen sie immer sofort.

27. Juli 2009 13:24