Hans Thill

Zettel

15. September 2023 14:00










Tihomir Popovic

lever du roi

östlich der rasierklingen
trinkt er morgenwasser
aus jakobsmuscheln
aus dem kunstpostkartensee
aus den glockenklängen der stadt
nimmt die aufwartung
der sommerwespen entgegen
zählt die schimmelflecken
über dem fenster

der großkämmerer
bringt ihm das taghemd
aus weißdornblüten und disteln
die gekrönte anakonda
im linken ärmel

noch dreißig atemzüge
dann beginnt es

9. September 2023 12:20










Christian Lorenz Müller

MAUERSEGLER

Schwärzere Sicheln, schneiden sie Mückenähren
unter abendlichem Gewittergewölk.

Wie bäurisch du noch immer denkst,
wo doch allein die Luft
ihre Scholle ist, als Scheune
haben sie nur ihren Magen, und doch
brüten sie jedes Jahr
auf dem gleichen Mauervorsprung,
jedes Jahr nehmen sie die halbe Welt
unter die Flügel,
ziehen tausende von Kilometern
für zwanzig Quadratzentimeter
Gestein, Ziegel, Beton.

Schwärzere Sicheln, schärfen sie sich
mit ihrem Schrei, fahren durch den
Gewitterhimmel, der ihrer Leichtigkeit grollt,
dem ferneren Blau, durch das sie bald schon
schneiden werden.

30. August 2023 09:13










Markus Stegmann

Weltraumschaf

 

Mit kleinen Mondzähnen

und reichlich angegriffener

Sprache sass mein Weltraumschaf

nebst mitgeführter Schatulle im

Weltschatten meiner

längst verblichenen

Hoffnung auf unsere

Wiederkehr

 

 

28. August 2023 20:40










Christine Kappe

kaputter Mond

du kannst doch keinen kaputten Mond fotografieren, lass es, hör auf, du kannst durchgucken, durchfallen, dich schneiden an seinen Glaszähnen, die rostige Leuchtstoffröhrenhalterung hält die Dunkelheit fest wie einen Edelstein

eher wirst du umgefahren, von Leuten, die einen Parkplatz suchen, und die dich zu kennen meinen, und schließlich mitnehmen

 

24. August 2023 23:09










Mirko Bonné

Die Ameisen

Sie begrüßen jede Pore
im Beton, und sie wissen,
die Süße der Feigen hängt
vom Wind ab, davon, wie
heiß er weht ab Mitte Juli.

Sie durchqueren Wand und
Haus, lesen sich durch die
Dachzimmer und deine und
meine Erinnerungen, deren
Königinnen sie gut kennen.

Rennende Buchstaben und
schwarze Küsse wie Bisse,
rieseln sie über den Horizont
der Brüstung, Mischung aus
Regen, Ast, Lakritz und Blitz.

Sie schreiben Gottes Namen
in die Krone der Zieraprikose,
und wenn sie schlafen, schläft
der Tag. Sie haben kein Ziel
und erträumen, was sie sind.

*

24. August 2023 13:31










Tobias Schoofs

PARIS

wie schön sind die täler
die hohen berge finden
hier ihren tieferen sinn

sag peter die lücke
die wir hinterlassen
ersetzt uns vollkommen

2. August 2023 17:24










Tihomir Popovic

seeidyll

sie haben ihren palmensee vor sich
und zwei inseln verriegelt im winter
berge aus vermicelles
und vermicelles aus bergen

der müde rest des landes
was werden sie mit ihm anstellen
diese digitalen mülltonnen
am ufer des langensees

Ascona

26. Juli 2023 18:11










Tobias Schoofs

SELZNICK

ich kam aus dem kino in dem ein
actionfilm lief und betrat die straße
das leben ist nichts als fassade sagt
selznick dahinter sind keine räume

nicht einmal leere und ein gerippe
eilt an mir vorbei nur wenige meter
weiter vorn hält ein müllwagen müll
männer wuchten die tonnen herum

woher kommt all dieser müll die
häuser sind unbewohnt ohne räume
dahinter nicht einmal leere und jetzt
erkenne ich unter der mütze eines

müllmanns ein gesicht aus der schul
zeit mit augen wie drachen die einer
steigen lässt über der stadt und auf
dem bürgersteig vor uns tanzt das

gerippe zur musik unserer jugend
aber schon fährt der müllwagen
weiter und biegt um die ecke

(nach Motiven von Roberto Bolaño)

20. Juli 2023 11:53










Björn Kiehne

Die Freundlichkeit einer Fremden
Ich will mehr auf die kleinen Gesten achten 

die scheinbar selbstverständlichen, 

den Regen, der die Blätter vom Staub befreit, 

den Wind, der über den See streicht, 

egal, wer in ihm schwimmt, 

die ganze Großzügigkeit dieses Planeten, 

Erde, Feuer, Wasser, Luft, die sich 

finden, nur um einander zu verlieren. 



Wer würde nicht zärtlich werden bei dem 

Gedanken, dass wir alle sterben müssen: 

Gib ihr alles zurück, erst Haare, Zähne, Knochen, 

Flüssigkeiten, das Gewebe, das dich zusammenhält, 

dann die Gedanken, die Gefühle, deinen Namen, 

stirb, bevor du stirbst, jetzt, zärtlich 

in den Armen ihrer Großzügigkeit, 

der Freundlichkeit einer Fremden.



17. Juli 2023 08:24