Sylvia Geist

Wiederfund (17): Schwarze Hunde

Nach Einbruch der Dunkelheit ließ man sie von der Leine, während ich unter einer Laterne stand, als hätte man mich dort angebunden. Oder sie kratzten an einer schwächlichen Tür, Zähne schon an der Klinke, oder rasten mir über Bahngleise nach, bis bloß noch Fliegen half. Meistens waren sie zu zweit. Schwarz waren sie immer: Zwei Rottweiler, zwei Dobermänner, zwei Molosser. Fasste ich mir tagsüber doch mal ein Herz und setzte meinen Weg auf derselben Straßenseite wie die mir entgegen laufenden Vierbeiner fort, konnte man darauf wetten, dass sie spätestens, wenn ein vorbeifahrender Bus ein sofortiges Überqueren des Fahrdamms verhinderte, heiser bellend auf mich zu preschten.
Dass wir zu Hause Berner Sennenhunde hatten, half mir nicht. Außer der Schulterhöhe hatten sie kaum etwas mit meinen Schreckenskötern gemein, außerdem steigerten die Berner die Sympathie, die mein Vater Hunden schon früher entgegengebracht hatte, allmählich in ein geradezu symbiotisches Lebensgefühl, so dass meine Phobie immer wieder Anlass zu fruchtlosen Verhören und ebensolchen Tadeln gab.
Dabei sah ich es selbst ein. Wie beschämend es war, und wie traurig, das Klirren eines Halsbandes aus mindestens zweihundert Metern Entfernung wahrzunehmen, alles Schöne oder wirklich Interessante dagegen zu überhören. Wie konnte ich es überhaupt hinnehmen, mich von dieser Angst auf Kinderspielplätze und Friedhöfe abdrängen zu lassen? Längst wagte ich mich nicht mehr allein in den Wald, und in städtischen Vororten hatte ich mir angewöhnt, im Rinnstein oder gleich mitten auf der Fahrbahn zu gehen, in nur scheinbar sicherer Distanz zu den hinter den Gartenhecken lauernden Wachposten, denn inzwischen genügte ein routinemäßiges Kläffen, mich flattern zu lassen.
Notgedrungen hatte ich allerdings begonnen, meinerseits Jagd auf die Alptraumtiere zu machen. Wenigstens auf dem Papier sollte das Problem in den Griff zu bekommen sein, sollte doch das Personal statt meiner damit fertig werden! So in etwa kam es auch: Leonie wird – im Gegensatz zu ihrer hasenherzigen Erfinderin – von einem herrenlosen schwarzen Hund gebissen und adoptiert das Tier. Doch vielleicht entglitt mir die Geschichte, oder ich dachte mir, so viel Exorzismus müsse schon sein, jedenfalls ist der Hund am Ende tot. Mein Vater, der das Lesen nie gebraucht hat, gleichwohl liest, was aus meinem Kopf zwischen irgendwelche Buchdeckel findet, sah das aber anders: „Nein, nein, Leonie denkt nur, sie hätte Black getötet. Da steht´s doch: Seine Stirn traf auf die flache Seite des Axtblattes. Na bitte, auf die flache Seite. Und hier: möglich, dass sie sich dieses kurze, fistelnde Aufjaulen auch nur eingebildet hatte. Blut sah sie keines. Na bitte.“ Ein Hund wie dieser sei nicht so leicht umzubringen, dabei blieb er – und schien damit nicht allein zu stehen.
„Man kann den schwarzen Hund nicht töten“, las ich bei Les Murray. Er musste es wissen, nach zwanzig Jahren mit einem dieser Monstren. Hinsichtlich eines anderen, womöglich noch ärgeren Exemplars war Giorgio Caproni in Der Graf von Kevenhuller der gleichen Meinung und setzte noch eins drauf: „Die Beute, die dich, erschlagen, erschlägt …“ *
Ob in der Weigerung meines Vaters, das Ende „Blacks“ in jener Geschichte anzuerkennen, nun etwas Wahres steckte oder nicht, ich erinnere mich, dass ich nach der Begegnung mit Capronis Hund vor Wiedererkennensfreude, Schrecken und Erleichterung eine Zeit lang nicht zum Schlafen kam.
Tatsächlich sind meine Hundeprobleme nicht so einfach totzukriegen, sehr langsam verlagern sie sich aber ein wenig. Eines Morgens fand ich mich in einem Wintergarten voller Nichtraucher wieder. Ich war erschöpft und überdreht nach langer Reise, wild auf eine Zigarette und in entsprechender Stimmung, traute mich aber wegen des Schäferhundes der Gastgeber nicht, mich vom Platz zu rühren. Insgeheim wünschte ich das Tier zum Nordpol, und als hätte es mich gehört, gähnte es ausgiebig, wobei es alle Zähne zeigte. Dann kam es zu mir und leckte mein Ohr.
Auf einem Gang über den Homestead Trail oberhalb von North Vancouver wiederum tauchte letzten Sommer ein Rudel von vier stehohrigen, hochbeinigen, mehr oder weniger schwarzen Tölen auf, die mich wacker verbellten, während mein Herz stockte und weiterstolperte, wie gehabt. Trotzdem fehlte etwas. Es mag ein paar Minuten gedauert haben, bis uns klar wurde, was es war. Ein Zaun fehlte, hinter dem sich bellen, und ein Fahrdamm, über den sich rennen ließ, und irgendwie fehlte damit auch der Grund dafür. Nach der kleinen Weile, die wir – sie und ich – brauchten, um das zu merken, wurde es still, das heißt, alles Mögliche war zu hören. Rascheln, Spechthiebe, Plätschern, Stimmen jeder Art.

27. Januar 2014 14:59