Andreas Louis Seyerlein

10.12 — Von äußerst heim­li­cher Art und Weise, Gedan­ken zu notie­ren, berich­tet Patri­cia Highs­mith in ihrer Erzäh­lung Der Mann, der seine Bücher im Kopf schrieb. Wenn ich nicht irre, so ruht der Mann, von dem in der Geschichte die Rede ist, stun­den­lang in einem Lie­ge­stuhl, indes­sen er laut­los an sei­nen Roma­nen arbei­tet. Ein glei­cher­ma­ßen Wör­ter erobern­des wie Wör­ter sichern­des Ver­hal­ten. Es ist schwie­rig für mich, in ähn­li­cher Weise vor­zu­ge­hen, nahezu unmög­lich, ich habe es ver­sucht, ich komme je nur wenige Sätze weit. Nicht, weil ich ver­ges­sen würde, was ich bereits erzählte, nein, ich ver­gesse das Erzäh­len selbst, ich beginne zu kon­stru­ie­ren, die Sätze geben sich nicht die Hand wie üblich, jeder neue Satz scheint leb­los zu sein, erstarrt, ver­traut, erle­digt. Wenn ich nun doch so heim­lich wie mög­lich zu schrei­ben ver­su­che, schreibe ich in ein Notiz­buch, schreibe, sagen wir, ein­hun­dert Sei­ten weit, bis das Notiz­buch mit Zei­chen gefüllt ist. Was aber ist nun zu tun mit die­sem Buch, das nie­mand lesen darf, nur ich allein, weil es ein pri­va­tes Buch sein soll, weil das mein Wunsch, mein Wille ist, dass nur ich die­ses Buch lesen werde, solange ich nicht ent­scheide, dass das Buch ein öffent­li­ches Buch wer­den könnte. Ich müsste das Buch ver­ste­cken, was nicht wirk­lich mög­lich ist, oder ich müsste das Buch codie­ren, also ein zwei­tes Buch ver­fas­sen, in dem das erste Buch ent­hal­ten ist, aller­dings ver­frem­det durch eine Methode, durch einen Schlüs­sel (lili­put), zu Auf­be­wah­rung in mei­nem Kopf. Sobald nun das erste Buch in ein zwei­tes Buch ver­setzt wurde, würde es mög­lich sein, das erste Buch ver­schwin­den zu las­sen, mit­tels eines Feu­ers bei­spiels­weise. Man stelle sich ein­mal vor, ich würde mei­nen Schlüs­sel zur Methode der Ent­zif­fe­rung des zwei­ten Buches ver­ges­sen. Beide Bücher ver­lo­ren, wäre ich gezwun­gen, das ist ver­rückt, mein ver­schlüs­sel­tes Buch einer Behörde zu offe­rie­ren, die über aus­rei­chende Rechen­leis­tung ver­fügt, um mei­nen Text zur Leb­zeit noch dechif­frie­ren zu kön­nen. — stop

5.25 – Seit Tagen denke ich an Robert Walser, an seine Schrift, an seine herausragende Begabung, kleinste Zeichen zu notieren auf jede denkbare Art von Papier. Der private Raum eines zierlichen Notizbuches, das als Institution wieder bedeutend zu werden scheint, könnte für Menschen wie ihn erfunden worden sein. Nehmen wir einmal an, Robert Walser und ich würden je ein Notizbuch von 4 cm Höhe und 4 cm Breite erhalten, 100 Blättchen Papier, das heißt, 200 Flächen zur freien Beschriftung, ein Notizbuch, das im Notfall verschluckt werden könnte, dieses eine Notizbuch also, nur dieses eine, um darin zehn Jahre zu arbeiten, ich wäre bereits nach ein oder zwei Tagen zu Ende gekommen, so voluminös meine Schrift im Vergleich zu Robert Walsers Schrift. Ich müsste von vorne beginnen, radieren, dann wieder schreiben. Mit der vergehenden Zeit würden die Seiten meines Buches dünner und dünner werden, transparent vielleicht, feinste Löcher entstehen, erste Zeichen, dass mein Notizbuch bald verschwunden sein wird. – Samstag. Früher Morgen. Leichter Regen. – stop

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26. Juni 2013 18:14