Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (189)

20. April 2016, ein Mittwoch

Wir ließen es nicht. D. und ich sind nun auf der Erdbebeninsel Kyushu in Fukuoka, einer betonierten Stadt ohne Witz. Wir finden einen Schrein. Was soll uns ein Schrein nach Tagen voll von Schreinen? Der Reiseführer lockt uns in die „Canal City“, eine typisch doofe Einkaufpassage. Ohne Crêpes wäre sie völlig ungenießbar.

Abends ins hiesige Hombu-Dojo zum Aikido. Die Aikikai-Dojos von Fukuoka stehen unter der Leitung eines Mannes namens Suganuma, der einstmals näher an dem Aikido-Begründer Morihei Ueshiba war als kaum ein anderer. Suganuma-Sensei wird in den offiziellen Listen des Aikikai als vorletzter Uchi-Deshi geführt, also als Hausschüler, der im Dojo wohnte und dem Meister als persönlicher Assistent diente. Eine Art Jünger, der den Heiligenschein der Zeitzeugenschaft trägt. Suganuma-Sensei ist indes ein nahbarer freundlicher Mann. Mit seinen über 70 Jahren lehrt er noch immer, ist beneidenswert dehnbar, lässt sich von mir angreifen, greift auch selbst an – eine Art Willkommensgruß. Die Atmosphäre in seinem Dojo ist weitaus gastfreundlicher als in Tokio. Im Trainingsraum befindet sich eine Küchenzeile, im Anschluss ans Training wird eine Decke ausgebreitet, Tee gekocht, Gebäck gereicht. Der Meister bittet dann eine Schülerin, den Sitzenden einige Zeilen aus einem Buch über die Ethik des Budo vorzulesen. Altertümlich, und doch: ein Dojo mit Charme und Stil.

Allseits rät man uns dringend und eindringlich ab, ins Erdbebengebiet weiterzureisen. Ich verhehle meine Zerstörungsvoyeurismuslust. Aber ich spüre sie.

20. April 2017 09:41