Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (193)

24. April 2016, ein Sonntag

Im Bahnhof von Tokio steht neben mir auf einem Steig ein älteres Paar. Beide haben Fotoapparate. Beide fotografieren jedesmal, wenn ein Shinkansen-Zug einfährt, dessen imposante Schnauze. Der Shinkansen-Verkehr ist rege.

Mein Zug geht nach Nikko, ein beliebtes Ausflugsziel nördlich von Tokio. Im Waggon, in dem sonst, wenn überhaupt, diskrete Zwiesprache den Pegel deckelt, wird es plötzlich knäulig laut. Das ist eine italienische Reisegruppe. In Nikko steht der Toshogu-Schrein, darinnen befindet sich Weltkulturerbe mit den drei Affen (mit Pfoten vor Maul, Augen, Ohren), der Schrein der schlafenden Katze, fischfleischweiß getünchte Tore, viel Farbe, viel Gold, eine machtvolle Pracht, die mich zügig ermüdet. Um 10 Uhr bin ich da, um 13 Uhr wieder weg. Wie dringe ich durch den japanischen Panzer aus Tempeln, Schreinen, Reis, Udon, Budo, Kirschen und Kimonos? Sightseeing verblödet sehr schnell. Die Fahrten dazwischen sind erhellender. Zum Beispiel das Husten japanischer Männer. Ihre Lust am Abhusten. Es ist offenbar sehr mannbar, dieses Abhusten, das fast schon ein Erbrechen ist.

In der U-Bahn-Station warte ich auf D., sitze auf einer Treppe, verkrochen im Schutz meines Beobachtungs-Postens, registriere Schönheiten im Verfall: Fleischschwund am Wangenknochen … „ausmergeln“, auch so ein Wort. Oft zu beobachten: gehäkelte Krägen, lesende Menschen mit Büchern in Reclam-Format, aber schlanker und geschmackvoller. Papiermundschutzmoden.

Zwei Stunden später. Da kommt D. Wir fahren zu einem Hochhaus, darinnen in den 43. Stock, stehen mit Cocktails an einer Fensterfront und sehen von oben Tokio in den Abend dämmern. Um Mitternacht ins Bett. Der Wecker wird in eineinhalb Stunden klingeln. Wir wollen es wieder versuchen, nach zweimaligem Scheitern zum dritten Mal: zur Fisch-Auktion.

24. April 2017 11:43