Thorsten Krämer

Der Marabu

Der Marabu ist von allen Vögeln derjenige, welcher in einer Sauna am wenigsten auffallen würde. Auch eine Fahrkartenkontrolle in einem Intercity würde er problemlos überstehen. Die Hässlichen sind die wahrhaft Unsichtbaren.

In Hamm lebte ein Marabu mehrere Jahre unbemerkt neben einer Tankstelle. Er ernährte sich von den Abfällen der Autofahrer und wärmte sich an der Abluft des angeschlossenen Bistros. Lediglich einige Kinder, die im richtigen Moment aus dem Fenster schauten, während ihre Mütter oder Väter mit der Zapfpistole in der Hand neben dem Wagen standen und den kurzen Moment der Ruhe in ihrem hektischen, durchgeplanten Tagesablauf auskosteten, diese Kinder sahen den Marabu. Doch wurde ihnen natürlich nicht geglaubt, denn einen solchen Vogel hatte hier in Hamm noch niemand sonst gesehen, zumindest nicht in freier Wildbahn. Nur bei einer Gelegenheit erblickten auch die Erwachsenen den Gast aus Afrika: wenn er oben am Himmel vorbeizog, aus der Ferne kaum unterscheidbar von seinem heimischen Verwandten, dem Storch.

Ein ähnlicher und doch ganz anderer Fall ist aus Jena bekannt. Dort richtete sich ein Marabu im Innenhof einer Behörde ein. Die Raucher, die sich in regelmäßigen Abständen dort zusammenfanden, hielten ihn für einen der ihren, und auch die wenigen Bürger, die vor einem wichtigen Termin noch einmal frische Luft schnappen wollten, nahmen keinerlei Anstoß an seiner Anwesenheit, grüßten ihn sogar vorsorglich für den Fall, dass sie ihm vielleicht später in einem der Zimmer gegenübersaßen. Sein beharrliches Schweigen nahm dem Vogel niemand übel, im Gegenteil, es wurde ihm als Lebensweisheit ausgelegt. Erst ein Ornithologe, der Privatinsolvenz anmelden musste, machte diesem angenehmen Leben ein Ende. Als der Marabu verstand, dass dieser Mensch ihn für das sah, was er war, breitete er die Schwingen aus und hob sich, nicht ohne Bedauern, in die Lüfte.

Wahrscheinlich hätte ich dir das besser nicht erzählt. Jetzt frage ich mich, wann es dir aufgefallen wäre, wenn ich nichts gesagt hätte.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

14. Mai 2017 06:18