Christian Lorenz Müller
GÖNNEN SIE SICH GELEGENTLICH
EIN PAAR ÜBERRASCHENDE FORMULIERUNGEN!
Dieses Gedicht glaubt schon lange nicht mehr
an sich selbst, aber erst vor ein paar Wochen
gestand es sich das wirklich ein
und begab sich zum Psychologen.
Er vermochte nichts Auffälliges festzustellen
bis auf eine milde Form von Narzissmus,
aber das, sagte er, sei nicht weiter schlimm,
da gehe das Gedicht mit allen anderen Arten
zeitgenössischer Kunst konform,
er habe schon ganze Opern behandelt,
Theaterstücke, einmal sogar ein Gemälde
von der Größe eines halben Fußballfelds:
Überall die gleiche Ichbezogenheit, das sei
inzwischen Standard, also brauche er
keine Diagnose zu stellen,
im Gegenteil, er gratuliere dem Gedicht
zu seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein
dann riet er ihm, sich gelegentlich
ein paar überraschende Formulierungen zu gönnen,
auf Wiedersehen, er schüttelte dem Gedicht die Hand
und brachte es zur Tür.
Draußen blies ein Herbstwind,
den einer der längst verblichenen Vorfahren
des Gedichts erfunden hatte,
rotes Buchenlaub raschelte über die Straße,
und ratlos machte sich das Gedicht auf den Weg,
es musste also gar nicht an sich glauben,
es konnte sich guten Gewissens im Spiegel betrachten,
in der Anthologie, in der es bald abgedruckt,
in dem Online-Blog, in dem es sich
schon morgen selbst veröffentlichen würde,
voll verzweifelter Fröhlichkeit schleppte es sich
über eine Brücke und dachte einen Augenblick daran
sich ins Wasser zu stürzen, ließ es mit dem Gedanken
an die fehlende ironische Distanz zu sich selbst,
die sich darin ausdrücken würde, aber bleiben
und schlurfte in Richtung Apotheke,
dort ließ es sich von einem verhinderten Aphorismus,
der ihm schon öfters geholfen hatte, bedienen,
„Sinn in Tablettenform ist selten eine runde Sache“,
zitierte der Aphorismus sich selbst,
er lachte ordinär, aber er fragte nicht
nach dem Rezept.