Mirko Bonné

Levkoje

Wo ich gestern erst ankam, lebendig
von Neugier, riss man den Bahnhof ab
Trümmer lagen hinter Maschen-
drahtstellgittern

und im Nieseln ein Beton- und Glasflach-
bau unter Bäumen für Bäcker, Super-
markt (Wir lieben Lebensmittel.)
Kranzfachhandel

wo die Blumenverkäuferin Grün trug. Mit
dem Gewicht einer Levkoje beschäftigte sie
die Bestürzung von mir Fremden
Bahnhofslosen

bis ich mir sicher sein konnte, sie dachte
beim Binden von Gerbera, Astern, Iris
wie ich, der ihre Blumen bestaunte
an mein Begräbnis und ihres.

*

2. Juni 2009 13:34










Thorsten Krämer

Interiors

Das Ergebnis von fünf Tagen Arbeit: ein Jungentraum in hochauflösender Grafik. Das Bett groß genug für Vergnügungen aller Art, an der Wand ein Flachbildschirm in Leinwandgröße. Statt eines einzigen großen Fensters gibt es ein asymmetrisches Muster von mehreren Scheiben, eingearbeitet in ein Regalsystem, dessen Ablageflächen nur spärlich belegt sind: ein großformatiger Bildband, die in futuristischem Weiß gehaltene Dockingstation eines MP3-Players, als Retro-Element ein Paar Baseballhandschuhe. Durch die Scheiben hindurch schimmert die generische Landschaft. Der Lichteinfall wirkt lebensecht, die Oberflächen sind mit genügend Details ausgestattet, um das Bild auf den ersten Blick real wirken zu lassen. Das Rendering ist makellos, die Rechenleistung hinter dem Projekt kann als ein Versprechen auf das Dargestellte selbst gesehen werden: Eines Tages wird ein menschlicher Körper seinen Schatten auf dieses Bett werfen, in Dubai oder anderswo.

3. Juni 2009 18:05










Hans Thill

Martin Zingg

Seit der Romantik hat man sich immer wieder die Frage gestellt, was ein poetisches Leben sein könnte. Vivre poétiquement: für Baudelaire hatte der Dichter cool zu sein, Jarry fuhr mit dem Fahrrad durch Paris, eine Flinte auf dem Rücken, Brecht ließ die Zigarre nie ausgehn. Ganz anders Martin Zingg, für den das poetische Leben Engagement und unermüdliche Tätigkeit bedeutet. Als junger Mann hat er die Zeitschrift Drehpunkt begründet (zusammen mit Rudolf Bussmann), die nicht nur für die schweizer Literatur ein solcher geworden ist. Er hat in 25 Jahren 125 Nummern herausgegeben, bis ins Jahr 2006. Er ist ein einfallsreicher, verlässlicher Vermittler, Rezensent, Übersetzer, Journalist. Er schreibt konzentrierte, eigenwillige Gedichte, die man viel zu selten liest. Das soll jetzt anders werden. Willkommen, Martin Zingg, im Goldenen Fisch!

4. Juni 2009 18:15










Martin Zingg

Arrest

Immer erst mal ins innere Archiv,
das ungeräumte, räumen wäre kein Ende:
 
die Tassen, ja, blaue Landschaften
wie diese, und war so ein Teppich nicht das,
 
worauf man trat beim Besuch jeweils,
oder dieser Stich, der Dom von Utrecht:
 
ein Stich in den Himmel über allem,
Stativ einer Zeit ohne Aussicht
 
Darauf nicht vorbereitet, nicht wahr,
was zufällt, zerfällt, Archivbestand Ich:
 
Aushub mit Weckreiz, ein Aufhorchen, -blicken,
ist hier denn was zu holen, was denn

4. Juni 2009 21:42










Björn Kiehne

Ahrenshoop im Mai

Salz, Wellen, Sand,
meine gefalteten Hände
fangen den Wind,
flechten den Salzatem
in ihr schlichtes Gebet.

Im Bodden wispert das Schilf,
im Nordmeer singen die Wale,
am Himmel schreibt eine Möwe
mit Federkielen hundert Zeilen
an die Wolken, die Weite, das Meer.

Und könnte ich singen,
bliebe ich doch still.

Und könnte ich schwimmen,
täte ich es doch nicht.

Und wäre auch nur ein Gedanke sinnvoll,
spräche ich ihn nicht aus.

Nur Lauschen,
Rauschen.

5. Juni 2009 10:38










Sünje Lewejohann

PETER LAUGESEN IM RITTERSAAL AUF HALD

schreib tiere.

schreib große worte und kleine,

schreib schnecken ins gras und vögel auf zweige.

schreib all das weswegen und zu ehren von,

schreib all die großen, all die kleinen.

schreib wörter.

das ist, was du verlieren und einbüßen wirst,

was du suchst und tust, was du findest und bist.

schreib deinen aschenen kajak auf den spiegel des sees hinaus mit allem,

was vergessen und verschwunden sein wird,

all das

und dann lass die mätzchen fallen.

(Peter Laugesen, Skriv dyr, Übersetzung: Sünje Lewejohann)

5. Juni 2009 11:34










Sylvia Geist

Strontium

hiesige himmelsrichtungen
nach zehrschäden und heuschreckenvöllerei zu bestimmen wäre leicht
südliche lebensläufe zu unterscheiden von solchen aus unseren provinzen
    ein kinderspiel in jahrhunderten die heimat unserer leibspeisen festzustellen
gäbe es schon methoden. übrig blieben überallkarten in
knöchernem esperanto

vollständiger entschlafen
in einem künftigen smithsonian als im erdarchiv die
vor uns. niemand der sie lesen könnte – besonders nachts
    wenn du die ganze straße überblicken könntest weil niemand
dich ablenkt davon reist der glaube weit. aber
nicht allein

zu sein
ist ein zimmer im raum. im dunkel wohin
wir dauernd unterwegs sind die gezähmte landschaft ringsum auch
    die blüht ihre große rapsfeldfreude die lautstärke am mittag
und wie es sein kann mit plänen und
auf lavendeltreppen.

    Schön, dass Du hier bist, lieber Martin!  

     
5. Juni 2009 14:27










Hendrik Rost

Tabu

Das Eis ist dünn, ich gehe weiter auf den See hinaus,
betrete das klare Wasser, unter mir Algen und Fische,
die sich nicht rühren. Ich gehe bis zu der Stelle,
wo das Mädchen aus meiner Klasse eingebrochen war,
wir haben sie später besucht, die Haut wächsern,
kalt sah sie aus, die Hände gefaltet, getrocknet.
Das Eis ist sehr dünn und es knirscht an der Stelle,
die am weitesten vom Ufer entfernt ist. Ich betrete
die Stelle und bin ihr ausgeliefert. Unten Fische.
Ich stehe auf so dünnem Eis, wie Traum im Schlaf
eine Hülle bildet, auf der sich Dinge abspielen.
Manchmal bricht etwas ein, und ich wache auf.
Ich weiß, die Toten sind nicht schlechter als andere,
sie wissen, wie es sich anfühlt, erinnert zu werden,
sie kennen die Kälte von innen und gehen im Winter
unter die Haut. Ich gehe auf dieser Schicht spazieren
und breche ein Verbot. Das ist mein Versprechen.
Wenn ich aufwache, werde ich klüger sein und wach.
Ich bringe Kälte ans Ufer mit. Ich erinnere mich.

5. Juni 2009 16:29










Carsten Zimmermann

was sache ist

was-sache-ist

5. Juni 2009 16:46










Mirko Bonné

Liveübertragung

Am Morgen kroch wieder der Dunst über
die kaputten Wälder, die geraden Felder,
wo Rotwild herumstand, Wanderer durch
Zerstörung marschierten, Fasane fragten
nach dem Gewicht des Lichts. Espenlaub
im Nieselregen, das sauerländische Fach-
werk auf stumme Landschaft übertragen
oder umgekehrt, und Korrespondenten
Mauersegler, regennass im Lärmen der
Stille, durch die sich in lieblichem Blau
ein Laster (Frische kennt keine Grenzen)
zum Autobahnkreuz schob – alles sagte
Sieh hin, hast du im Kopf keine Augen,
genau so bist du, und du gehörst dir.

*

5. Juni 2009 22:48










Carsten Zimmermann

wie seltsam

wie seltsam
diese stätte war:

boden aus sand,
und kiefern,

trockenrindig in den raum
gestellt (und wohl auch krank),

und zapfen lagen,
wie von langer hand verstreut,

und knackten hart,
wenn ich verlornen schrittes

auf sie trat

6. Juni 2009 09:30










Markus Stegmann

blasses Dynamit daran

Meterkante Belang vorflutete
betun Mangel Erden daran
solang der geringe Betrieb
blasses Dynamit verlangt
eines der wessen
verdingte ans Kind
gehängtes löste Papier
sodann verschwand
beholfene Bahn
Melanom der Düne
der trug eines lang
immer daran

7. Juni 2009 23:17










Thorsten Krämer

Memphis

Hallo Parallelfahrt, hallo Plansequenz: die filmischen
Mittel schweigen still, genau wie die Kanonen: la guerre
est finie
, der Trümmerchic ist nur ein Zwischenstadium.

Wo Hoffnung ist, ist Leben; wo Leben ist, geht es
vorbei: Sieh hier den Straßenzug, den Schatten, den der
Müllkorb wirft – ist das nicht Wirkungsmacht der Immanenz?

Sei das Unkraut, sei Graffiti, überwuchere und überzieh.
Sei das, was Rest wird; sei der Anfang, der schon angefangen hat.

8. Juni 2009 16:50










Sylvia Geist

Ein, zwei Bemerkungen über die vielen Möglichkeiten, „Willkommen“ zu sagen

Um das hier habe ich mich gerissen. Unbedingt wollte ich das Vergnügen haben, Christoph W. Bauer im Goldenen Fisch willkommen zu heißen – obgleich der Geistesblitz, ihn hierher einzuladen, gar nicht von mir stammt, sondern von Mirko.
Ja, ich habe mich regelrecht vorgedrängelt, und jetzt, da es ernst wird mit der Begrüßung, stehe ich vor einem Problem. Denn wie stelle ich das nun am besten an, bei so jemandem?
Ich könnte aus einer Laudatio auf ihn zitieren: „Bauer gehört zu den Autoren, die rar sind im Lande. Er ist voller Skrupel, behelligt Menschen nicht aufdringlich mit seinen Texten.“ Und: „Diese Gedichte sind Christoph W. Bauer.“ (Anton Thuswaldner)
Ich könnte Christophs produktive Vielseitigkeit erwähnen, seine Romane, Herausgaben, Lyrik. Ich könnte über die Freude schreiben, die seine Gedichte in mir auslösen, über den Rausch beim Inhalieren der glänzenden, rasanten Wortschöpfungen, der lebendigen, hochkomplexen und dabei ganz kristallinen Syntax, über das erstaunliche Vermögen auch, Fremdwörter zu fremden Worten zu machen, zu verführerischen, coolen Sirenen, und über das, noch erstaunlicher: dermaßen leichtfüßig das „land in unsichtbaren atlanten“ abschreitende Wissen, das diese Gedichte mit dem Leser teilen wie gute Gastgeber, freigebig und so selbstverständlich, dass man sich fühlt wie zuhause.
Ich könnte erzählen, wie ich ihn, nachdem wir vor Jahren schon im Rahmen des schönen, von ihm initiierten Zeitschriftenprojekts „Wagnis“ Schriftkontakt hatten, erst kürzlich kennengelernt habe, als herrlich unkonventionellen Denkspieler und Gedicht-Gesprächspartner.
Und ich könnte – endlich! – ihn zu Wort kommen lassen, mit einem Auszug aus seinem Gedicht aus 70 Gedichten „supersonic“, aus dem Abschnitt „aprikosen“:

XVI

läufst die glieder gegossen zu klöppeln
im stirnrad der pflichten
aus dem dickicht
aufgefächerter gebärden

denen du die tage bezwingst stadtein
übern markt dir selbst feil
geboten und taub
für offerte längst wieder

verkauft zwischen geflechten voll licht
aus den sekunden gepflückt
von gesängen über
mütigen schüben ganz

plötzlich
die saftigen lieder in aprikosen
fabulierender kindersommer im mund

*

Lieber Christoph, gemeinsam mit Mirko und allen im Goldenen Fisch freue ich mich über Deine Ankunft hier.

9. Juni 2009 14:07










Andreas Louis Seyerlein

~

22.05 – Da war ein Tisch. Auf diesem Tisch lag ein menschlicher Körper. In nächster Nähe lehnte eine hochgewachsene junge Frau mit dem Rücken an einer Wand, Augen geschlossen, als wäre sie eingeschlafen. Ihre Hände betasteten einen Kehlkopf, das heißt, genauer betrachtet hüpften ihre Finger über den kleinen hellbraunen Körper hin, als wären sie Lebewesen für sich. Wenig später war die Frau wach geworden. Sie legte die filigrane Struktur auf den Tisch zurück, zog ihre Handschuhe aus und sagte: Aber natürlich darfst Du das wissen. Ich habe nachgedacht und geträumt zur gleichen Zeit. Rasch machte sie mit einer Hand eine Schale, hob den Kehlkopf mit der anderen Hand vom Tisch und legte ihn in die Handschale ab: Ein Larynx! Grandios, nicht wahr! Was ich mit meinen Fingern angeschaut habe, geht nie wieder fort! – Taubengrauer Himmel. Leichter Regen. Sturm von Südwest.

> particles

12. Juni 2009 22:20










Markus Stegmann

Magere

Verfachte angestuft fährt
Holbein belangte Angst
belahmten Hand
lockerte Wasser drin einblindet
die lange totenhaft abgefilmt
flammt verfärbte
Macht angegiebelte vogellose
Hals am Schnitt sie
Gras drin eingebücktes
Gelände Fracht solare
Segel solche Papier
magere Krume

12. Juni 2009 23:37










Andreas H. Drescher

Fundsache Vogelsang

[DINA4] Wir glauben, dass Gott all=
mächdig ist also, das er alles kann.
Er (konn) [Punkt] kann und will uns
all (desitzen) beschutzen. Aber nur,
dann wenn wir auch es zullassen. []
denn er (res) die Freiheit in (Entsei)
(Entschei) [ze ausgestrichen] Ent=
scheidungen und im Handlen, die er
uns geschenkt hat sehr respektiert.
Das (heist) heißt, das wir uns (imer)
immer [vielleicht Komma] wieder für
das Gute (d) oder für das Böse für
die Allmacht Gottes oder gegen sie,
(d) aber mit allen (Kon) (Konsek) []
Konsequemen entscheiden können.
Gott beschekt uns mit seinen Ge=
boten, die das Mit [DICK] einander
der Menschen regelen (ka) können.

16. Juni 2009 08:16










Thorsten Krämer

Holly Springs, Mississippi

Mit den Würmern kommt die Bedeutung, die expansive
Schwärze der Zeichen: We’ve never seen mushi
this far out before!

                                   Ein Spezialist aus Japan
wird eingeflogen, Narration nach Belieben. Was bleibt
sind Trübungen des Bewusstseins, ein leichter Schwindel
zwischen den Gedanken.

16. Juni 2009 22:16










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter XXX: Abdelkebir Khatibi

Gedächtnis-Notizen (für Männer)

Er sagt: gib mir dein intimes Denken.
Sie sagt: gib mir sein Einverständnis.

Sie sagt: ich selbst bin fremd meiner Umarmung.
Er sagt: in der Reglosigkeit des Begehrens ohne ein Morgen.

Sie sagt: der Engel erscheint den Frauen nicht.
Er sagt: er erscheint und verschwindet, dabei mißt er die Entfernung.

Er sagt: ich schenke, empfange dich, indem ich dich anerkenne.
Sie sagt: stell dir vor, du wärst verfolgt, aufgelöst in deiner Kindheit.

Sie sagen: soviel Lust für eine flüchtige Nacht.
Sie sagt: jede Nacht wendet sich ab vom Tag im Aufblitzen eines Augenblicks.

Er sagt: schreib!
Sie sagt: vergiß dabei die Götter und ihre Engel.

18. Juni 2009 12:26










Mirko Bonné

Drei Tauben

Immer unverblümter kommt
die komische, wilde
Lust, alt zu sein –

vorauseilender Gehorsam
eines Hundes mit drei Beinen,
auf mehr Gebrechen zu hoffen, Weisheit
des an den Gaumen gepressten Schlucks.

Einen alten Straßenkehrer in Köln,
der drei Tauben fütterte (oder vergiftete),
nach dem Weg gefragt, stand ich

im Flandrischen Viertel im selben
Hotelzimmer wie vor zehn Jahren, Tauben,
gleichgültig gegen Glück oder Zufall,
überlebt zu haben, flatterten im Hof

zwischen „Phantomschmerz“-Plakatschwarten
und Türen eines Schranks an einem Baum,
bevor sie im Spiegel verschwanden.

*

18. Juni 2009 12:50










Kerstin Preiwuß

Statt Tauben

Heute sitzt die erste Taube sehr früh auf dem Schlag und fliegt nicht hinein, obwohl Herr Matuschek weiß, wenn sie hineinflöge, hätte er den Wettflug für sich entschieden. Er beobachtet sie, nimmt sie mit der Flasche aufs Korn und ist schon ganz betrunken. Hält sich dann die Flasche vom Hals und macht es ihr auf dem Erdboden vor, wie man hineinzufliegen hat. Dabei kriecht er und schuppt sich den Bauch auf, na und? Rucke-di-du macht die Taube währenddessen über ihm.
Na warte Liebchen, sagt er noch hitzig dem Erdboden zugewandt und rappelt sich wieder auf, damit du es weißt: Ich reiß dir die Federn aus und stopf dich ins Flugloch zurück. Sagt’s und versucht im gediegenen Seemannsschritt seinem Täubchen näherzukommen, was hier bedeuten soll, die Leiter zum Schlag beim dritten Versuch schon zu ergreifen und sich dann an ihr emporzuklimmen, bis er mit beiden Beinen auf der vorletzten Sprosse zum Halten kommt.
Derweil sein Täubchen gurrt und trippelt ganz aufgeregt auf dem Dachgiebel hin und her, es ist doch ein wenig sonderbar, was heute geschieht, schließlich steckt hier nicht jeder in einem Federhemd und hält sich durch mit Luft gefüllten Röhren auf den Beinen.
Währenddessen kümmert Herr Matuschek sich nicht um die Verkehrung solcher Tatsachen, schließlich hat das hier immer noch ein Wettflug zu sein, den er gewinnen will, was nützt ihm da die Taube auf dem Dach. Hinein soll sie, das muss sie doch verstehen, er macht es ihr mit großer Geste vor, dass sie sich eingeladen fühlen kann, hinein heißt in den Taubenschlag und durch das Einflugloch, heißt –
Dass das Täubchen mit dem Köpfchen ruckt und immer aufgeregter in Bewegung gerät, nur leider in die falsche Richtung, denn anstatt Matuscheks Einladung Folge zu leisten und sich an seinen Handbewegungen entlang geradewegs ins Innere des Daches geleiten zu lassen, nimmt es eher noch Abstand und zieht sich leichtfüßig auf die Mitte des Giebels zurück.
Matuschek ist darüber ganz empört, schließlich ist es immer noch seine Taube, die auf seinem Hausgiebel sitzt, und er hat ja auch noch mehr davon, fast könnte er sich mit ihnen eine Hochzeit ausrichten, bei der dann so viele weiße Tauben aufflögen wie er und seine Braut an Jahren zählten, an gemeinsamen wohlgemerkt. Jetzt aber geht es um die erste heute hier, die schon da ist, aber nicht hinein will, davon wird ihm ganz heiß im Kopf. Die Guten ins Köpfchen, die Schlechten in Töpfchen, sagt er sich auf einmal grinsend laut vor, bevor es ganz nach oben geht aufs Dach und der Taube hinterher.
Flugs erinnert sich diese daran, dass sie nicht nur Trippelfüßchen besitzt, und hebt ins Bodenlose ab, wo mittlerweile auch schon einige ihrer Mitstreiter darauf warten, in den Schlag hineinzukommen, den Weg hinein aber versperrt nun gerade der Matuschek, na und?
Die zweite Taube wäre immer noch die erste gewesen, aber es ist auch noch früh und obendrein darf auch nicht vergessen werden, in welchem Zustand Herr Matuschek schon auf dem Erdboden versucht hat, seinem Täubchen zu zeigen, wie man ordentlich ins Loch zu fliegen hat.

19. Juni 2009 15:25










Hartmut Abendschein

Ruiniert

Wir wechseln das Thema. Wir berichten vom Springbreak in Bambusia. Die Bambushexe fegt die Veranda. Zaghaft werden die Isolatoren von den Kübeln gewickelt. Pläne werden geschmiedet. Der eine oder andere Strauch wird betrauert und gestreichelt. Man reckt sich zur Sonne hin. In schwarzen Leggins und darüber etwas, das einmal orange war. It shalle beginne …

(Was treibt eigentlich Kerben Kleinstein? Und: Warum erhält diese Figur immer mehr einen double-bind-Status? Erinnerung und Beobachtung sind tückisch. Ordnungstrieb prägt mnemonische Gruppen. Diese sind schwer aufzulösen.)

Wieder, wie ein ewiger, ein vom Wind gehauchter Refrain: Das Wilener Gotteslob der Bauherren. Vom Bänkli vor em Huisli da gseh-i-a diä Pracht / wo d’r liäb God im Maiä fir d’Mäntschä hed gmacht. (Wir meinen Individualität und Identität: Wird Göttliches erst sichtbar vom Eigenheim aus. Korreliert Glauben mit einer gewissen Unbeweglichkeit. Kann ein Punkt das Andere nur punktförmig denken?)

Oder: Entspricht
das Andere stets
nur der Form
des Eigenen?

Hier könnte Ihr Satz stehen …

Am 2. Abend
An gelben Blumen gerupft
Die blauen geraucht

Merke: den Unterschied zw. Bloggen und postalischem System nach Derrida / Siegert. In Lovink, 70. Und: „Alles, was der Fall ist, wird weitergeleitet“. Und darum zitieren wir auch: Versuche dich selbst zu errichten, und du wirst eine Ruine erbauen. (Augustinus). (Aber, oder nicht?: Die notula als Maschine wechselseitiger Intro- und Extrospektion. Vielleicht ein „digital self-fashioning“ eines – aber schon – hybriden Selbsts. Wie kann in solcher Gespaltenheit auch imaginärer Raum und sharkiness erzeugt werden? Der Stil bleibt stets ein Stil der Aussagenprotokolle im Kampf mit einem verzweifelten Kommentar. Die Bedeutung bleibt reines Deuten auf Der-Fall-Seiendes in Bewegung.)

[notula nova 40]

20. Juni 2009 19:07










Björn Kiehne

Wenn Du singst –

höre ich mein eigenes Lied;
auf den Bürgersteigen,
auf den Straßen,
mit der Ausdauer des Suchenden,
mich selbst in den Asphalt getreten.

Fußabdruck am Sunsetboulevard
der verstummenden Träume;
dieser Himmel, den ich mir malte,
in blauen Scheiben liegt er da,
wartet auf den nächsten Wagen.

Es ist zu laut in den Städten,
zu leise auf dem Land.
Ich lausche in den Lärm,
lausche in die Stille und…
höre nichts.

Halt die Einsamkeit lebendig,
komm nicht an!
Scheuch das Ziel über den Horizont,
verbrenn den Stadtplan auf der Straße,
zertritt das Navi auf dem Bürgersteig.

Und dann singst Du,
und ich höre mein eigenes Lied.

21. Juni 2009 13:48










Carsten Zimmermann

nächtliche einflüsterung nach den spätnachrichten

wußtest du nicht:
was die fernseher senden,
existiert nicht.
es gibt keine fernseher.

wußtest du nicht:
die welt ist ein marketing-gag
der konzerne.
es gibt keine welt.
es gibt keine konzerne.

wo du hier bist,
ist nirgendwo.
es gibt kein nirgendwo.

22. Juni 2009 09:50










Kerstin Preiwuß

Was ich einmal wie zum ersten Mal sah

Dass das Geräusch niedergehenden Regens und das Geräusch aufkommenden Windes sich gleichen. Dazwischen der Ton der Schwalben.

Spielende Kinder am Teich. Wie sie alle ohne ihre Hosen so aussehen wie Generationen spielender Kinder zuvor. Die Zeit setzt sich mal und schaut ihnen zu.

Bäume am Rand einer Straße: Straßenköter, struppige Wegelagerer, Vagabunden. Angepflanzt im Sinne einer Allee.

Etwas anderes habe ich dagegen gelöscht. Es waren drei schlechte Nachrichten, ein Kind, das ums Leben kam, ein Mann, der seine verstorbene Frau noch im Nachhinein ehelichte und der zur Trauungszeremonie symbolisch die Kirche mit ihrem Hut im Arm betrat, und etwas über die Logik terroristischer Effizienz: nachdem die Bombe explodiert war, eilten viele Menschen den Verletzten zu Hilfe. Dann explodierte die Bombe.

23. Juni 2009 14:57










Sylvia Geist

Bewegung des Tages

So viele hat es gegeben im Lauf der Zeit, dass man sie kaum aufzählen kann. Man hat die Arme in die Luft geworfen und in die Hände geklatscht. Manchmal hat man die auch überm Kopf zusammengeschlagen. Man hat vor offenen Schnürsenkeln gekniet, mit den Fingern Finger angestupst: „Schau mal, so…“ Man hat sich über aufgeschürfte Knie und eingewachsene Zehennägel gebeugt. Man ist über Spielplätze und Straßen gerannt, während man irgendwelche Beschwörungsformeln murmelte. Man hat die Arme ausgestreckt und kam gerade noch rechtzeitig. Man hat den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Man hat den Kopf in den Nacken geworfen und gelacht. Man hat den Kopf geschüttelt. Sich an ihn gefasst. Man hat sich den Bauch gehalten. Man hat genickt. Ratlos die Hände gehoben. Auch den Zeigefinger, das kann man nicht bestreiten. Man hat sich erst mal hingesetzt. Man stand herum und an. Man sprang auf. Man war stolz, gerührt, entsetzt, gespannt, verängstigt, mitgenommen, begeistert, erstaunt. Man blieb auf Trab und war daneben. Alles kam in Gang und ging weiter. Jetzt geht jemand los. Man steht da und hält einen Moment lang ganz still. Man stellt sich auf die Zehenspitzen. Dann hebt man zwei Finger an den Haaransatz. Man zieht den Hut.

für Kai

24. Juni 2009 12:59










Hans Thill

Erster Schritt ins Fenster

Soba (Zimmer), More (Meer), Cape Maybe und
ein auf Sandalen gebauter Himmel Himalaya. Neon Lyra,
Mädchen im Mandolinenslip, beim Zählen der Vögel, der
Plastikflügel über Illyrien. Hotel Donau, hier endet
Edekobe, fest stehen die Karawanken, wo der Srebrobär
sein Sägemehl frißt wie wir die Sprachwolken.
Auf deinen Augen, inneres Mädchen, rudern wir
für einen Würfelzucker, für eine Handvoll vergessener
Kirschen, für die geworfene Peperoni der Revolution.
Teheran. Genosse Absolut an die Korinther: Ha! Ha!
Upha! Gebt mir ein Blei dann rufe ich die Heilsarmee
der Worte. Johann Köhl, der die Klarinetten zählt, die
toten Fische im blauen Kaltwasser. Alte Wasser, bittere
Früchte. Wir küssen das Meer. Strah (Angst), Ime (Name),
Prah (Staub)

Begrüßungsgedicht für Tomica Bajsic, Gordana Benic, Ivana Bodrozic Simic, Branko Cegec, Delimir Resicki, Zvonko Makovic, Urs Allemann, Arnfrid Astel, Kurt Drawert, Ann Cotten, Karin Kiwus. Poesie der Nachbarn Kroatien. Edenkoben 24.6.2009

25. Juni 2009 09:43










Mirko Bonné

Bremer Erinnerung

Ich erinnere mich an winzige finstere Zimmer,
in schmalen rußfahlen Häuschen,
an Durchbrüche zum Keller,
Wendeltreppen und Wellensittiche,
die ins violette Auge der Gastherme flogen,
um mit einem Zischen in Flammen aufzugehen.

Gelenkbusse schlängelten sich nach Huckeried.
Die Häuser wurden älter und schwärzer.
Margeriten im Regen, es gibt
keinen Weg zur Welt als den Weg
des Mitgefühls. Autokolonnen bis Gröpelingen.
Man bessert die Mauern aus und streicht sie weiß.

Dagegen erinnert sich nichts hier an mich, keiner
scheint sich meiner erinnern zu können.
Regen prasselt auf die Weserufer.
Straßenbahnen schwimmen nach Walle.
Bloß das alte Thermenauge flackert lila und
öffnet sich, sobald ich mich Bremen nur nähere.

*

25. Juni 2009 10:13










Thorsten Krämer

Cade’s Cove, Great Smoky Mountains

Adlerauge vs. Weichzeichner, die assemblierte Landschaft
beruht auf Mischtechniken: Nach hinten raus gerissene
Papierstreifen vom Bastelblock, im Vordergrund Foto-

Realismus. Jeder Baum ein Déjà-vu, die Vögel dort zwei
Flecken auf dem Objektiv. Ein Katalog von möglichen
Perspektiven blättert sich auf, das Alleinstellungsmerkmal

bist du.

25. Juni 2009 21:19










Andreas Louis Seyerlein

~

1.17 – Ein Freund erzählte von Nächten, die er vor 30 Jahren in den gefährlich gewordenen Strassen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgendjemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? – Wie furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of „Allah-o-Akbar“ were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq – situation today is terrible – they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads – blood everywhere – pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th 
they were waiting for us – they all have guns and riot uniforms – it was like a mouse trap – ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground – she had no defense nothing – sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested – young & old – they take ppl away – we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting – from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed – nowhere to go – they follow ppls with helicopters – smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet – getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users – must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq – now – Sea of Green – Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat – blood everywhere – like butcher – Allah Akbar – 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile – so many killed today – so many injured – Allah Akbar – they take one of us – 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan – unbelevable – ppls murdered everywhere – 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks – like factory – no human can do this – we beg Allah for save us – 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move – Mousavi – Karroubi even rumour Khatami is in house guard – 5:28 PM Jun 24th we must go – dont know when we can get internet – they take 1 of us, they will torture and get names – now we must move fast – 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green – pls remember always our martyrs – Allah Akbar – Allah Akbar – Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah – you are the creator of all and all must return to you – Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th

> particles

27. Juni 2009 20:42










Mirko Bonné

Jacko

Auf dem Sitz über dem Radkasten,
während draußen vorm Busfenster
die sonnabendliche Stadt einkaufte,

zeigte er mir auf dem Oberschenkel
den besten Tänzer des Universums
in seinen Augen, mit zwei Fingern,
die vor und zurück schritten, rollten,
dabei sich doch nicht fortbewegten,

bis mit einer Pirouette seiner Hand
Jacko von der Jeans verschwand
im normalen Gewimmel des Lichts.

Für Nick

*

29. Juni 2009 21:34