Mirko Bonné

Billy Shakespeare

Der kleine Billy lief hier übers Gras,
vorbei an Schlüsselblumen, Ringelblumen,
an der Mauer dem Goldregen und Wein,

nichts weiß die weite Welt davon.
Shakespeares Kindheit und Jugend,
ein dunkler Garten. Er hat Luftwurzeln.

In die matten Bleiglasscheibchen
eines der alten Fenster in Stratford
sind hunderte Signaturen geritzt,

Hardy, Scott und Charles Dickens,
Keats kam 1817 her, gerade 22,
fleißig feilend am Endymion.

William Shakespeare, Gentleman,
kam mit 28 zur Welt, verheiratet,
groß wie die Tür seines Elternhauses,

um die sich eine Heckenrose rankt.
Raute, Lavendel, Rosmarin, die Lilien,
altgeworden, sah er den Garten wieder.

Durch die Namen im Fenster sehe ich
die alte Henley Street: ihre Shops,
Souvenirbuden, Geldautomaten.

Nebenan vorm Dichterzentrum
knipsen asiatische Reisegruppen
elisabethanische Schaufensterpuppen,

während unter dem Quittenbaum
voll gelber runder Quittenplaneten
ein Schauspieler in Pumphosen

indigniert Hamlet deklamiert.
Er schwenkt einen Plastikschädel
über Maiglöckchen, Waldgeißblatt,

wildem Thymian und Veilchen.
Hier lief der kleine Billy übers Gras.
Er kannte alle Blumen, und jede Blume ihn.

*

5. Oktober 2010 22:04










Hartmut Abendschein

dichter in linde, hamlet deklamierend

9. Oktober 2010 20:58










Andreas Louis Seyerlein

frankie

~ : malcolm
to : louis
subject : BALCONY
date : aug 11 12 10.08 p.m.

Seit Tagen bereits sehen wir Frankie in ständiger Bewegung. Das Eichhörnchen scheint zu einer Persönlichkeit geworden zu sein, die ohne jeden Schlaf auszukommen vermag. Wir haben das so nicht erwartet. In den vergangenen Tagen und Nächten wanderte Frankie 180 Meilen durch den Central Park. Wir dachten zunächst, dass Frankie’s Unruhe sich entfaltet haben könnte, weil es regnete. Aber Frankie läuft noch immer und es hat schon lange aufgehört. Der Himmel an diesem Abend ist wolklenlos. Wir befinden uns nahe der Baseballfelder Höhe 61. Straße. Es ist denkbar, dass es gleich rauf bis zur 68. Straße gehen wird ohne Pause, eine Frage der Zeit bis wir aufgeben müssen, weil wir das Ende unserer Kräfte erreicht haben werden. Entweder wir bekommen bald eine Ablösung oder es ist Schluss! Manchmal fragen wir uns, warum das notwendig ist, ein Wesen zu beobachten, das über einen Sender verfügt, den wir jederzeit anpeilen könnten, um das Gespenst wiederzufinden. Nein, es ist nicht immer leicht zu verstehen, was hier vor sich geht. Gestern, Freitag, haben wir von 2 bis 4 Uhr folgende Positionen hinter uns gelassen > Turtle Pond : Great Lawn Softball Field : Bridge No 24 : East 96th Street Playground : North Meadow : Harlem Meer : Glen Span Arch : Seneca Village Site : Shakespears Garden : Balcony Bridge. Ihr Malcolm – stop / codewort : ligurien

empfangen am
11.08.2012
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malcolm to louis >>

10. Oktober 2010 21:51










Hans Thill

Ortsveränderung: die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF hieß Boden oder Bad und lag auf einem rauhen Berg. Bäche sah man keine Fische tragen. Die Straßen flossen mit dem Schotter in die Ferne, die hinter einem Schleier lag. Ein Fachwerk wie aus trüben Türmen gezimmert. Wie entkamen wir dem kalten Quatsch der Kübel und Boxen? Grund, Garten, ein nächtliches Alfabet, das in Balkanien begann. Sprechende Namen, Hunde. Wie Steine stand das Vieh auf der Wiese.

12. Oktober 2010 09:58










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER I

Das erste Zeitalter tut noch nicht wie ein Zuhause. Die Stadt lässt das nicht zu. Wilder Hibiskus vielleicht, nicht aber eine Linde. Wilder Hibiskus, der vom Asphalt in Fernen träumt. Im Clinch mit dieser Linde. Ein ganzes Erdzeitalter lang. Sie steht ganz einfach falsch in ihrem Nichtdastehen. Vielleicht, weil die nicht weiß, wie groß sie ist. Unter Hibiskusgröße? Über Hibiskusgröße? Letztlich beginnt sie doch noch mit sich selbst. Als sich drehender, als sich stauchender Klang.

12. Oktober 2010 10:11










Andreas Louis Seyerlein

~

15.05 – Ich war Besitzer eines Radios mit elektrischem Auge. Sobald ich auf einen Knopf drückte, glühte das Auge zunächst dämmernd, und dann leuchtete das Auge grün wie das Wasser eines Bergsees, und ich hörte seltsame Stimmen und Rauschen und Pfeifen. Das Radio war ein sehr gutes Radio. Es existierte seit dem Jahre 1952, war also viel älter als ich selbst und musste nie zur Reparatur gebracht werden. Nur einmal hüpfte eine Taste heraus und das Radio sah fortan aus, als habe es einen Zahn verloren. An einem sehr heißen Julitag des Jahres 1974 saß ich gerade vor dem Radio ohne Zahn, als gemeldet wurde, Fallschirmjäger seien über Zypern abgesprungen. Von einem Konflikt war die Rede und das Auge des Radios leuchtete dazu und die Membran seines Lautsprechers zitterte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass nun Krieg sei, ein wirklicher Krieg, der erste Kriegsbeginn, den ich als Wellenempfänger miterlebte. Irgendwann verschwand das alte Radio und ich bekam ein neues Radio. Dieses Radio konnte Geräusche speichern, und so speicherte ich Geräusche, singende Frösche vielleicht, oder meine Stimme, die mich befremdete, die nie meine eigene Stimme gewesen war, sondern immer die Stimme eines anderen, der ähnliche Dinge sagte. Bald machte ich mit einer weiteren Maschine Filme, nein, ich zeichnete Filme auf ein Band, den Film der Stadt Bagdad an einem Vorkriegsmorgen zum Beispiel. Die Sonne strahlte vom Himmel, und ein Vogel, der nicht zu sehen war, zwitscherte. Vielleicht saß der Vogel auf einer gepanzerten Kamera, die das Bild der leuchtenden Stadt zu mir hin übertrug. Dieser Vogel war noch Radio gewesen. stop. In Diktaturen verschwinden Menschen und ihre Telefonnummern zur selben Stunde. stop

> particles

14. Oktober 2010 18:49










Sylvia Geist

Treppe mit Raupe

Braune Nerzmade, wie Staubgefäße
weich die Grannen auf ihrem Körper
aus Ringen, langsam und länger
als mein kleiner Finger hangelt sie
über die Klüfte zwischen den Planken
und erschrickt. Beide sind wir Blinde.

In Gedanken sehe ich kaum mehr
sie, die jetzt einen Schilfkolben imitiert,
sondern ihre Vorfahrin und eine der Meinen,
die vielbeschäftigte, eilige Frau, die jene
eines Augustabends zerstreut errettete vor
der peitschenden Wasserschlange im Garten.

Zwischen Skylla und Charybdis war der
ständig in Gefahr verschluckt zu werden
vom märkischen Sand oder unterzugehen
als Schlamm. Wie oft ertrank die Grasnarbe,
fortgeschwemmt im verstockten Bemühen
um die Stachelbeeren, die Kaiserkronen,

angepflanzt gegen den Maulwurf, die Nesseln
auf den Fahrradhügelgräbern bei der Lichtung
aus Krüppelkiefern? Kein Ankommen gegen
die Gliederkette dieser Vorwärtsmuskeln, nur
die Finger, die sie berühren wollen, die Motte
in der Zeit, die über die Beete fliegt.

Der, dem die Raupe nun den Ledernacken
hinhält, den Wurmfortsatz von Kopf
mit den unsichtbaren Augen, mein Finger
fühlte die lederne, unabsichtliche Sanftmut
streuende Frauenhand damals und den Strom
unter der kühlen Haut des Schlauchs.

18. Oktober 2010 13:01










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF, eine Durchgangssiedlung. Freche Völker hatten es zwischen weißem Bengelholz auf Isolatoren und Lehm errichtet. Wo man mit der Ferse kratzte, glänzte es elektrisch hervor. Wir suchten Unterkunft für Sekunden. Fremde werden gepackt, gebündelt und entflammt, warnte Seneca. Wir stellten unsere Teller vor das alte Tier, das sich mit Worten zierte.

19. Oktober 2010 10:15










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER II

Das zweite Zeitalter ist sein eigener Flur. Ein mildes Einzelnes und großes Zischen. Und der Asphalt träumt seinen ersten Taxistand. Wacht auf in Fahrgastlosigkeiten. Ein Haus und noch ein Haus setzt noch ein Haus aus sich heraus. Leer, leer und leer. Noch vor jeder Neutronenbombe. Das Nachbarhaus warnt seine Nachbarhäuser: „Wartet nur ab, bis ihr eure nächsteerste Stromrechnung bekommt!“ Aber noch ist kein Erstes und kein Zweites. Noch ist bloß Erdzeitalter satt.

19. Oktober 2010 10:22










Hendrik Rost

Was

für ein tolles Gedicht!
Allein „Nerzmade“, „Vorwärtsmuskel“!

19. Oktober 2010 14:13










Hans Thill

Ortsveränderung: die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF begann in der frischen Morgenluft mit Flecken an der Leitplanke. Hier hingen die Öfen aus dem Haus. Die Männer: rußige Gesichter, Zündhölzer zwischen den Zähnen. Wir sahen die Mäuse über die Fahrbahn huschen, dachten Opitz und Pest. Frauen kamen flach wie die Kinder des Olymp und wollten tanzen mit zusammengehenckten Händen.

26. Oktober 2010 10:15










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER III

Das dritte Zeitalter fängt sich selbst mit einem Aufstoßen an. Das hängt der Straße ihre ersten Markisen ein. Hibiskusfarben, wie sich versteht. Bald ausgewaschen. Schon nach tausend Herbsten regnet es den ersten Lindenblütentee. Wollmäuse flüchten fensterein. Ihre Bewegung bleibt als reines Moll zwischen den Straßenschildern hängen. Als Ausgerenktheit ohne Glieder. Dort drüben hat jetzt der Kirchturm mit sich selbst geschlagen. Die Glocke, aufs Vibrieren untersucht, zerfällt.

26. Oktober 2010 10:17










Thorsten Krämer

Code connu

VIII.

während einer musikalischen Pause

deine sich reibende Übersicht

die vorwärts geneigte Ablenkbewegung

ein Sessel, der Wärme als Rache auffasst

deine indianisch anmutende Feinfühligkeit

während des maskierten Gesprächs

eine verwunschene Systemkritik, ein Gefälle

im Urgrund einer entblößten Theorie

das charmante Gestammel der Anführer

deine sonnengebräunte Nonchalance

die Unbedenklichkeitserklärung einer Nacht

während die Sterne ein Kopftuch tragen

mitten im Wahn eine stille Figur

eine Ansicht, die langsam verschwindet

28. Oktober 2010 17:51










Mirko Bonné

Mars und Monde

Der verregnete Garagenhof,
eine Häusersichel plötzlich
himmelblauer Tore, in der Mitte
geziegelter Stern fürs Bäumchen.

Es sieht so aus wie seinerzeit.
Richtig! Wie geht’s dir, kleine
Esche, was treibst du seit dreißig
Jahren, und wo sind alle?

Auf der Ziegelmauer schwerelos,
las ich Austauschschüler, picklig,
nichts, ich lebte für Modelle
von Mars und Monden in den Tag.

Aufgebockt in einer Garage
stand der graue Familienmorris,
in der daneben lagen Matratzen,
vollgesogen mit Somersetregen.

Da küssten Rodney und ich
zwei giggelnde Nachbarmädchen
mit Pferdeshirt, duftender Haut,
staubfeinen Ohrläppchen,

die uns mitnahmen nach oben
in ihren Plüschtierkosmos,
Poster vom Pferdekopfnebel
an Tapeten überm Rekorder.

Phobos, die Furcht, kreiste
als zerdellte Schädeldecke
des Kriegsgottes um den Mars,
ich hielt den Mond in Händen,

fühlte die Unebenheiten,
die Krater unter Liz‘ Haaren,
Knochen, Knorpel, und spürte,
ich flog durchs All, wir flogen.

*

29. Oktober 2010 10:49