Was war das für eine freudige Verwunderung, ihr in der Surrealismus-Ausstellung der Vancouver Art Gallery zu begegnen, in einem imaginären Raum, der fast genau jenem glich, in dem bald darauf das dritte Treffen stattfinden sollte: Majestätische Gestalten mit Tierköpfen bereiten in einem großen hellen Saal ein Festmahl vor, und für mich besteht kein Zweifel daran, dass es sich um das Fest im Haus der Angst handelt, bei dem ich gestern Zaungast war, obgleich das Parkett auf dem Bild anders als in der Kurzgeschichte nicht aus goldgefassten Türkisen besteht. Ansonsten aber … ich „hatte den Eindruck, dass sämtliche Pferde der Erde bei diesem Fest zugegen waren.“
Da es das Haus der Angst ist, ist dieselbe natürlich die Gastgeberin, und in der Geschichte verkündet sie der wie in jedem Jahr versammelten stocksteifen Festgemeinde, sie habe dreihundertfünfundsechzig Tage darüber nachgedacht, wie sie das Ereignis vervollkommnen könne und sich endlich ein neues Spiel ausgedacht. Das geht so:
„Ich werde selbst das Amt des Schiedsrichters übernehmen, und wer gewonnen hat, entscheide ich. Ihr müsst alle so schnell wie möglich von einhundertzehn bis fünf zählen und dabei an euer eigenes Schicksal denken und Tränen für jene vergießen, die vor euch dahingegangen sind. Gleichzeitig müsst ihr mit dem linken Vorderhuf den Takt zu den Wolgaschiffern, mit dem rechten Vorderhuf zur Marseillaise und mit den beiden Hinterbeinen zu Wo bist du, meine letzte Sommerrose klopfen. Ich habe mir noch ein paar andere Einzelheiten ausgedacht, aber die habe ich dann weggelassen, um das Spiel zu vereinfachen. Lasst uns jetzt anfangen, und vergesst eines nicht: Ich kann zwar vielleicht nicht den ganzen Saal im Auge behalten, aber der liebe Gott sieht alles.“*
Gesellschaftsspielregeln ohne Sinn und Verstand (wenn man von ihrer Wirkungsamkeit hinsichtlich sämtlicher Machtverhältnisse absieht) und diffuse Drohungen: Ich erinnere mich an kaum eine amüsantere Übersetzung dieser Instrumentarien, die aus der Burleske des Alltags den ganz normalen, nichtsdestoweniger drangvollsten Wahnsinn machen können.
Leonora Carrington hingegen kannte zwar den Wahnsinn – und erlebte einige schreckliche Monate in einer spanischen Anstalt, nachdem sie 1940 binnen einer halben Stunde ihr gemeinsam mit Max Ernst ausgestaltetes Haus in Frankreich und damit auch ihre dort entstandenen Werke hatte verloren geben müssen und bevor sie nach Mexiko ging – , Angst aber kaum, jedenfalls als Künstlerin. André Breton nannte sie eine Hexe, und ich bin geneigt, ihm zu glauben. Zunächst vor allem in Verbindung mit Ernst als Bildende Künstlerin hervorgetreten, schrieb sie in drei Sprachen, neben ihrer englischen Muttersprache in zum Teil bizarrem Französisch wie auch in spanisch. In ihrem Werk verarbeitete sie u.a. Anregungen aus der Alchimie, keltische und mesoamerikanische Mythen und die Theorien C.G. Jungs, die dank Carringtons überbordender, das Groteske, das Grausame und – immer – das Schöne einschließender Phantasie eine einzigartige Textur eingehen.
Soviel in Kürze zum zweiten und zum dritten Treffen. Das erste war etwas weniger konventionell und fand vor ein paar Jahren in einem Traum statt. Der spielte im Jenseits, wo es aussah wie in der Lobby eines mäßig freundlichen Hotels, in der jedoch zu meinem großen Glück alle bis dahin Gegangenen zugegen waren, die ich gekannt hatte, also auch Frau Carrington, da ich sie nämlich nun kenne und der Traum sich ja auf Kommendes richtete. Durch meine Erinnerung an ein ihr auffallend ähnliches Gesicht dort wird diese Behauptung zwar nur schwach gestützt, sie würde ihr aber trotzdem gefallen, zumal ich dabei die Zeit als nichts weiter zur Kenntnis nehme denn als einen Ochsen, der im Kreis läuft, langweiligerweise nur im Uhrzeigersinn. Und als Hexe, die gern nach Rezepten des 16. Jahrhunderts kochte und sich laut Breton einmal in einem Restaurant sowie in aller Seelenruhe die Füße mit Senf bestrich, gefällt es ihr bestimmt erst recht.
* Leonora Carrington: Die Windsbraut – Bizarre Geschichten. kleine bücherei_nautilus, 2009
17. September 2011 17:15