Mathias Jeschke

Freibad 7

Der Tag, an dem die drei afrikanischen Musen,
grazile Nachfahrinnen der Erato – nigra sum,
sed formosa – in der gleißenden, auf dem Wasser
blitzenden Nachmittagssonne den Tempelbezirk
des Freibads durchschritten, war ein Sonntag.
Es war unfassbar heiß. Sie durchschnitten einen
sorgsam gewobenen, bunt gewirkten Teppich.
Sie teilten ein Meer. Irgendjemand in deiner Nähe
atmete hörbar aus. Wir kniffen die Augen zusammen
und griffen blind nach gekühlten Getränken.

2. August 2014 21:48










Gerald Koll

Punpun

.

.
(Inio Asano: Gute Nacht, Punpun. Band 5. Kapitel 50. Tokyopop. a. Auflage 2014. Nach: Oyasumi Punpun. Shogakukan 2007.)

4. August 2014 10:23










Thorsten Krämer

Palo Alto

Ein Verhörer über der Stadt, erstarrte
Deixis zur besseren Orientierung.
(In Zeiten der Homophonie darf man das sagen.)

Ein Zirkeln um parallele Historien, auch
hier versagen die Bilder, wenn es um Dichtung geht.
(Wer der Spiegelschrift folgt, findet den Weg.)

Palimpseste – Maleste – Oeste
(Odysseus kam nie bis an den Niederrhein.)

Die Welt ist alles, was falsch verstanden werden kann.

(für Tobias Schoofs)

4. August 2014 12:41










Markus Stegmann

„Zusehn“ zitiert

„Zusehn“ zitiert &
ins Gelände gedrückte
paradoxe Pastille
auf „Zunge“ gestellter Abzug
ins überhelle Licht
lehn ich moosmatt zurück
ununterscheidbar zwischen
leicht & Lordose
zwischen überblendeten Birken
& erstarrtem Paddelschlag
der Schläfe
schlag auf du Schlaf
deine Augen

Råvarps Fiskevårdsområde

4. August 2014 22:51










Sylvia Geist

Zeitgeist

Die Gegenwart hält drei Sekunden, etwa so lang
wie im Rückblick der ganze Tag war für die Frau,
die auf ihrem Fensterbrett wohnt – nur gerade jetzt die
Monotonie ist ewig. Nebenbei, es gibt neuerdings

Berichte aus diesem Drüben, ein mäßiger Chirurg
kann dich hinbringen, und wieder zurück. Betäubt
mit einem Nadelstich einen Punkt in deinem Hirn,
und was durch den Sinn ging, steht wie ein Ball ohne

Schwerkraft, gegen den Ego, dein pawlowscher Hund,
vergebens anspringt. Oder er ist es, der steht, Kiefer
verrostet, in seinem Erlebnishungerkäfig. Das Bewusstsein
da ist ein leerer Stuhl, der an der Schädeldecke hängt,

allem über. Unsinkbarer Staub, Tissue, Schnee,
genug um dir ein Bild zu machen, aber du kannst nicht
darauf kommen. Ja, wo du nicht bemerkst, dass die letzte
Sekunde verstreicht, bleibst du immer drinnen, vielleicht

hast du was mitgenommen, eine Stimme, ein Geräusch,
als zwitscherten Sterne. Alles, um dich zu erinnern,
doch es beginnt nicht, keine Musik ohne Zeit – “viel, um
spät anzufangen und dann zu platzen!” -, Tinnitus ein- ein-

einer Silbe, jede Hoffnung will fahren, bloß wann. Wann
wirst du so schnell, die Trägheit deines Gedankenblitzes
mitzukriegen. Vergiss die Hölle aus Aspik, den jüngsten Abfall
der Schmerzforschung. Wie ein Dopaminjunky flattert

die Jahreszeit vorbei an einem Sonntag im Rigor? Das
bist du, in stroboskopischer Bewegung. Weg vom Fenster,
und nimm die Treppen langsam. Die Seele blitzt aus grauem
Fleisch, das ist krumm wie die Erde und nicht zu leicht.

7. August 2014 09:40










Andreas Louis Seyerlein

~

5.08 – In der Bibliothek entdeckte ich vor einiger Zeit einen Zettel. Der Zettel steckte in einem Buch, das ich entliehen hatte, um nach einer Geschichte zu suchen, die ich vielleicht schon einmal gelesen haben könnte vor vielen Jahren. Es war eine Geschichte, die von einem Gespräch erzählt, welches Frau Blum mit ihrem Milchmann führte, in dem sie dem Milchmann Botschaften sendete, ein Verhalten, das notwendig gewesen war, weil Frau Blum üblicherweise schlief, wenn der Milchmann frühmorgens das Haus besuchte, in dem sie wohnte. Diese Geschichte, ein wunderbares Stück, hat Peter Bichsel geschrieben, eine ganze Welt scheint in ihr enthalten zu sein, obwohl sie so kurz ist, drei Seiten, dass man sie von einer Station zur nächsten Station in einer Straßenbahn reisend Wort für Wort zu Ende lesen könnte. Ich erinnere mich, das Buch lag weich in meiner Hand, es war etwas schmutzig, zerlesen, auf seiner Rückseite waren einige dutzend Stempelaufträge zu finden, so wie man das früher noch machte, Bücher mit Rückgabeterminen zu versehen, so dass jeder sehen konnte, wie oft das Buch bereits gelesen worden war. Dieses Buch, von dem ich gerade erzähle, war seit über zwanzig Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich stellte mir vor, dass das Bändchen vielleicht hinter eine der Bücherreihen gerutscht sein könnte, weswegen es lange Zeit nicht gefunden werden konnte. Vermutlich war das Buch längst verloren gemeldet, so dass ich ein Bücherexemplar in Händen hielt, das in den Verzeichnissen der Bibliothek nicht länger existierte. Anderseits scheint es möglich zu sein, dass das Buch versteckt worden sein könnte. Vielleicht war es von genau jener Person versteckt worden, die den Zettel in das Buch gelegt hatte, eine Person, die möglicherweise bereits gestorben ist. Das alles ist natürlich reine Spekulation, allein die Existenz des Zettels ist sicher. Dort war in blauer, akkurater Schrift zu lesen: Wie man einen Vermerk schreibt, um sich an gelesene Geschichten erinnern zu können. – stop

6.15 – Vor wenigen Minuten, ein Mensch sprach sehr leise, habe ich beobachtet, dass ich meinen Mund öffnete, um besser hören zu können, ein anderes Mal, dass ich beide Arme hebe, also von mir abwende, also Flügel mache, sobald ich durch die Wohnung laufe und darüber nachdenke, wie es wäre, ohne jedes Gewicht zu sein. Das war gegen drei Uhr in der Nacht gewesen. Ich spielte sehr leise etwas von Gene Krupa auf dem Radio. In dem Moment, da ich die Küche verließ und über den Flur spazierte, überholte mich eine Fliege. Sie flog in der Höhe meiner Schultern und zwar sehr langsam geradeaus. Sie war nicht viel schneller als ich selbst gewesen. Ich hatte den Eindruck, sie würde mir folgen, sie würde mit mir das Zimmer wechseln, nicht einem Reflex folgend, sondern überlegt und mit Genuss. Sie war so langsam, dass man sie auf einer Fotografie meiner Zimmerwanderung sehr gut hätte erkennen können. In diesen Minuten sitzt die Fliege direkt über mir an der Decke, während ich auf dem Sofa auf dem Rücken liege und notiere. Die Fliege beobachtet mich vielleicht genauso wie ich sie beobachte. Von Westen her nähert sich eine Spinne da oben, die so klein ist, dass wir sie nicht ernst nehmen wollen. Bald Dämmerung. – stop

> particles

10. August 2014 04:54










Christian Lorenz Müller

Selbstgespräch mit Gewissenskomission

Nein, keine Waffen, auch nicht für Verzweifelte.
Es wundert uns, dass gerade Sie
an unsere Menschlichkeit appellieren, gerade Sie,
der Sie exakt vor zwanzig Jahren
den Wehrdienst verweigert haben,
unsre Frage fürchtend, was Sie machen würden
wenn ein Vergewaltiger Ihre Schwester, Ihre Freundin …

Aber lassen wir das, keine Waffen!
Wir stellen gerne Zelte, Decken, wir schaffen
Lebensmittel und Medikamente rasch vor Ort.
Kampfhubschrauber, das wissen wir aus Erfahrung,
schießen der Demokratie den Weg nicht frei,
und wer die Menschenrechte hochhält
kann nicht gleichzeitig zum Joystick greifen
und Lenkwaffen von den Tragflächen
einer Drohne lösen.

Wie, das sehen Sie ein und fühlen sich
dennoch zum Handeln verpflichtet?
Wir verstehen Ihre Reaktion, trotz allem,
glauben Sie uns, wir empfinden
im Grunde genauso wie Sie, gerade jetzt,
wo ISIS selbst Alte und Kinder massakriert.

Sie wären damals eher ins Gefängnis gegangen
als eine Waffe in die Hand zu nehmen, nicht wahr?
Wie halten Sie es heute?
Greifen Sie zur Kalaschnikow, zur Handgranate
oder überlassen Sie das doch nicht lieber anderen?

Wollen wir eine Pause machen? Noch Kaffee?
Oder lassen wir es gut sein für heute
und suchen einen weiteren Termin?

11. August 2014 10:58










Björn Kiehne

Das Herz des Waldes

Die Hitze flimmert,
den Äckern platzt die Haut,
Steine glühen in den Wunden,
einer löst sich steigt singend auf.

Die Lerche flieht in den Wald,
im Farndickicht ist es kühl,
dort schimmern Wasserläufe,
Wege ins Waldasyl.

Die Säulenhallen der Buchen,
der Eichelhäherschrei
zerteilt den grünen Dämmer
gibt die Lichtung frei.

Hier ins Moosbett legen,
dem Quellgang folgen,
das Herz freilegen –

vordringen in immer
tiefere Schichten
der Einsamkeit.

13. August 2014 10:36










Hendrik Rost

Wache

Vater, dies ist die Nacht, und ich
entscheide mich gegen –
die Bedeutung der Wörter,

Vater, ich will sie in die Welt schicken.
Nichts Großes ist zu erwarten
von mir. Ich bleibe wach,

solange ich nur den Klang liebe,
Klang des Regens, der gerade
nicht fällt, Vater.

14. August 2014 12:29










Hans Thill

… von den Wäldern …

auf dem Pitz Palü und über den Serifen,
wir versunken bis zu den Knien, bis zum Geschlecht. Von den
lauten Wäldern
am Hockenheimer Kreuz
haben wir noch den Mund, der das
Fell

kaut, wenn es ein Pergament werden soll,
ein Folienblatt für Oskar auf dem Weg zu Klaus, zu
Claudia, mit dem Geruch des Buchensäuerlings,
der lange im Gras lag,

bei Hagen, der Siegfried tätowierte.
Von den leisen Wäldern bei Worms
haben wir noch die Würmer als schüchterne Runen,

ein Rasseln im geohrfeigten Mund. Aus den
wütenden Wäldern des Donnersberg
(mont tonnerre),

16. August 2014 14:09










Andreas Louis Seyerlein

~

MELDUNG. Tief­see­e­le­fan­ten, 112 hupende Rüs­sel­ro­sen, nahe Tra­man­dai [ Bra­si­lia ] gesich­tet. Man wan­dert in süd­west­li­cher Rich­tung. — stop

> particles

20. August 2014 14:37










Christine Kappe

Den ganzen Tag schimmerte ein Film durch:
für einen Traum zu lang
– für ein voriges Leben zu kurz

21. August 2014 09:26










Sylvia Geist

Ein paar Anlässe eines ungeschriebenen Gedichts

Die Schlange vor der Zollstation, wo nichts
sich bewegt außer mir oder dem Dachschatten.

Die Formalitäten der fliegenden
Gesundheitspolizei um einen rotbraunen Rock.

Der Gestank an der Tankstelle,
wo wir um den Toilettenschlüssel anstehen.

Die Passantin, die hineinstürzt, als der Boulevard
sich über einer weiteren Etage der Stadt auftut.

Das Haus, in dem der Gastgeber aufwuchs
mit neun Geschwistern und der Mutter,

die beim Maischen sang und die Angehörigen
unserer Lebensbesichtigungsanstalt höflich übersieht.

Der Applaus der Kinder im Daycare, als wir
Gaben betrachten, die Gott ihnen geschenkt hat.

Der Wunsch, etwas zu kaufen. Der Vorsatz,
wenigstens alle Werbeschilder zu lesen, z.B.

White powder for whiter results. Der Gestank
im Bus, während wir uns schneller verwandeln.

Der Moment, als ich sehe, es ergeht mir
wie den anderen. Die Erleichterung

beim Halt am Fastfoodlokal. Die Schlange,
die in den Armen des Köcherbaums schläft.

Der Versuch, wach zu bleiben. Der Sand, der
beruhigende Ton des rotbraunen Sandes.

24. August 2014 21:37










Hendrik Rost

Nach dem Stolpern

Das Wesen des Steins ist steinhart.
Ich weiß es aus eigener Erfahrung.
Aber Realismus ist keine Option,
wenn man am Kinn blutet.
Dann übernehmen andere Kräfte die Kontrolle.
Da liegt er, der Kiesel, unschuldig
seit der letzten Steinigung.
Lange lag er in einem Vorgarten –
vergessen fast,
was Kieselsein heißt.
Mir fällt nicht gerade ein Roman ein
im Übersprung, aber ohne großes Getue
spüre ich tief im Rachen die Sprache,
sie ist noch intakt, trotz gebrochener Knochen.
Die Töne ruhen da.
Das Wesen des Stolperns ist Inspiration.
Für jeden Einfall gibt es Beweise.
Für jeden liegt irgendwo ein Kiesel.

25. August 2014 11:05










Mathias Jeschke

Corvus corone

Die Rabenkrähe federt über die Wiese, sie
ist ein zweidimensionaler Scherenschnitt in
einer dreidimensional erscheinenden Welt.
Was hebt dich über bitter erlittenes Unrecht
hinweg, wenn nicht der Anblick der Natur.

Deine Jüngste hält sie für klein und wünscht
sich, eine von ihnen auf die Hand zu nehmen.
Sie, die eine besondere Begabung hat dafür,
diese Welt und ihre Erscheinungen in ein
austariertes Beziehungsnetz einzuflechten.

Sie schnarcht jetzt neben dir und in deinen
Träumen verwandeln sich die über das Gras
hüpfenden Krähen in lebensfeindliche Ideen.
Wie auch sollte es sich lohnen zu leben in
einem Käfig aus Gepränge und Geschmeide?

Wie viel Schmerz jedoch erträgst du und wie
willst du das Erlittene verkraften, wenn du
nicht den Augenblick nutzt, es loszuwerfen,
einen Anker, eine Urne in die wallende See,
einen gellenden Ruf nach Rettung, ein Gebet.

25. August 2014 21:05










Hans Thill

Claudia Gabler

Wie zahlreiche Fische ist Claudia Gabler ein Kind des Festlandes: tief im Südwesten geboren, lebt sie in steinigen Zonen, wo die Tannen ganz nah beisammen stehen. Manchmal wirft sie einen Blick auf die Segel des Bodensees, kürzlich hauste sie für eine Zeit zwischen den Reben in Edenkoben. In Lörrach rollt man mitten im Jahr feurige Räder den Buckel hinunter. Aber nicht einmal das Baden-Baden der Vogeluhren kann sie verschrecken. Claudia Gablers Gedichte sind von seltsamer Schönheit, wie aufgestiegen aus einer fernen Erinnnerung, die mit einem Mal sehr heutige, akute Formen annimmt. Idyllen, die mitunter sehr unsanft mitten unter uns landen. Das gefällt Sylvia Geist, das gefällt auch mir. Mit dem Salz dieser Gedichte wollen wir unseren Teich würzen. Willkommen, Claudia, im goldenen Fisch!

27. August 2014 15:35










Claudia Gabler

DANKE Hans, DANKE Sylvia, DANKE Fische. Aber but : NO NO HOLIday

This forest was like a zoo.
Hier trafen sich Hasen, die sich mit Füchsen trafen
und zuletzt Bären, die Schneeraupen fickten.
Wir wollten die Winterstarre erforschen
und wurden dabei unendlich müde.
Schlafmangel folgte Wassermangel.
Wir bauten Höhlen aus Federn und Laub
und sagten: House / Haus.

Gegen Mitternacht gingen alle in Torpor.
Wenn Feinde kamen,
wurden Fragmente von uns geweckt.
Unsere Nacktheit war unsere beste Waffe,
sie schlug einfach jeden Troll in die Flucht.
Zum Frühstück gab es Kuchen aus Klee,
Saft aus der Rinde des Ahorns, but
no condoms.

27. August 2014 16:49