Christine Kappe

Zustellversuch 10

für Richard Götting

04:35, Beyertour. 3 Meter vorm Ort, an dem morgen die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ stattfinden, muss ich eine Vollbremsung machen. Nicht etwa, weil ich die Absperrung im Dunkeln nicht gesehen habe, sondern das Entenweibchen, welches mir graubraun vors Rad lief. Soetwas ist mir hier noch nie passiert, normalerweise bleiben die Enten im Wasser, aber klar, jetzt fällts mir wieder ein, jetzt, wo meine Augen den Maschsee vergeblich suchen: stattdessen bloß eine weiße Folie sehen, wie eine Wand – ein Künstler hat ja zu diesem Anlass den Maschsee verhüllt, 78 Hektar! Ob das nicht ein bisschen übertrieben war? Und offenbar hat niemand an die Enten gedacht.

Der Wächter, den ich aufgeschreckt hatte, zündet sich mit knirschendem Feuerzeug eine Zigarette an. Ich fahre weiter, um die ungeraden Adressaten noch mit Zeitungen zu beliefern. In den Vorgärten rascheln hie und da die vertriebenen Enten. Vertrieben wie wir Menschen sowieso hier auf Erden, da kamen wir neulich mit Ric drauf: Der Mensch, der als einziges Lebewesen sich selbst auszurotten in der Lage ist, muss doch von einem anderen Planeten stammen. In Geibel 75 kauert ein verletztes Amselweibchen auf der Treppe. Es schaut mich mit Kulleraugen an und ich hätte es am liebsten mitgenommen. Ein paar Häuser weiter begegne ich einer ausgehungerten, streunenden Katze. Arme Amsel, denke ich. Doch es ist eigentlich nicht schrecklich.

2. Oktober 2014 10:15










Thorsten Krämer

Ein neuer Fisch: Tobias Schoofs

Im vergangenen Jahrtausend bin ich Tobias Schoofs zum ersten Mal begegnet, wir gingen beide in die Kölner Autorenwerkstatt der frühen 90er Jahre. In seinen Texten und seinem Sprechen über Literatur sah ich eine ähnliche Überzeugung wie bei mir am Werk: dass es nicht ausreicht, einfach nur „schön“ zu schreiben. Wir verloren uns dann aus den Augen; erst 20 Jahre später, social media sei Dank, liefen wir uns wieder über den Weg. Ein gemeinsamer Nachmittag in Lissabon, unterwegs durch die Stadt und dabei naturgemäß unablässig redend, hat mich sehr neugierig gemacht auf neue Texte von ihm, und so freue ich mich auf seine Beiträge an diesem Ort hier.
Herzlich willkommen im Goldenen Fisch, Tobias!

8. Oktober 2014 10:20










Tobias Schoofs

KEIN MEER

von fern vertut man sich: hier das
ist ein o · kein u · und das hier
ist das ich: prozess – nicht ding –
aus selbst und fremd bezug.

ich mach mal den vergil: das leben
ist ein auf und ab (c’est tout?):
da unten sehen sie maläste und
zur krönung · oben · haarspitzen

katarrh: das ist mein material.
so lernte ich anfahren am berg ·
alternativ fährt hier die straßenbahn ·
ein mehr gemeinschaftliches sitzen –

und das hier ist kein meer · es ist
ein fluss · er mündet weiter drüben.

(für Thorsten Krämer)

8. Oktober 2014 20:47










Christine Kappe

Nachtschnittplatz 1

Auch hier spitzen sich die feindlichen Lager zu: Siggi und Jörg reden nur noch per Rechtsanwalt miteinander. Der eine ist Idealist und Tontechniker, der andere Realist und Chef. (Dabei wird das Digitale uns letztlich überflüssig machen.)
Der Zusammenhang von Weltuntergang, Idealismus & Herzfehler! „Gebe dem Sender noch ein paar Monate.“ Mit Siggi allein in der Sendeabwicklung. Die Apparate flackern, der Ton schallt über den Bahnhofsvorplatz, auf dem sich der Verkehr staut – ein Meer, das gerade Flut hat – weil die Lokführer mal wieder streiken.
Siggi erklärt mir etwas, was ich gar nicht verstehe, weder akkustisch noch sonst irgendwie.
Einer der Kameramänner hat eine brennende Zigarette aus dem Fenster geworfen, sie ist unten, in einem der teuersten Restaurants der Stadt, auf einen Stuhl gefallen, der zu brennen anfing. Die Inhaberin des Lokals steht nun mit dem verkohlten Polster im Türrahmen und hält uns von der Arbeit ab. Aber wir berichten, glaube ich, ganz objektiv.

23. Oktober 2014 13:01










Andreas Louis Seyerlein

~

MELDUNG. Amei­sen­ge­sell­schaft LN — 1722 [ Stöp­sel­kopf­a­meise : Colo­b­op­sis trun­ca­tus ] Posi­tion 47°81’N 12°48’O nahe Über­see / Fol­gende Objekte wur­den von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das süd­öst­li­che Wen­del­por­tal ins Waren­haus ein­ge­führt : ein­hun­dert­sie­ben­und­zwan­zig tro­ckene Flie­gen­torsi gerin­ger Größe [ meist ohne Kopf ], zwölf Baum­stämme [ à 8 Gramm ], sechs Rau­pen in Grün, sechs Rau­pen in Orange, drei­und­sieb­zig Insek­ten­flü­gel [ ver­mut­lich der Gat­tung der Bir­ken­span­ner ], fünf Streich­holz­köpfe [ à ca. 1.7 Gramm ], zwei­und­zwan­zig schwarz­bäu­chige Tau­flie­gen der Dro­so­phila mela­no­gas­ter in vol­lem Saft, son­nen­ge­trock­nete Rosen­blät­ter [ ca. 122 Gramm aus ver­gan­ge­nem Jahr ], sechs Schne­cken­häu­ser [ je ohne Schne­cke ], drei­und­dreis­sig gelähmte Schne­cken [ je ohne Haus ], 5 Amei­sen anlie­gen­der Staa­ten [ betäubt oder tran­chiert ], acht ovale Zwerg­kä­fer [ ver­gol­det ], drei Aas­ku­geln eines Pil­len­dre­hers, wenig spä­ter der Pil­len­dre­her selbst, sechs Wild­bie­nen, zwei Eis­son­nen­schirm­chen [ in rot und blau ] je 5.008 Gramm, eine Krone [ Mat­tel X7892 — Bar­bie Glam ] 5.6 Gramm.— stop

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24. Oktober 2014 06:38










Thorsten Krämer

Halloween, Jackson, Tennessee

Minimierter Schatten, beste Lage
in Kürbisnähe: ein Alterssitz auf empfänglichem
Boden.
         In Laubbegleitung
                               verbrachte Tage, dösende
Verwesung. Memento mori, Puppe: die finale Anmache.

31. Oktober 2014 12:19