Mirko Bonné
Einer, der allein über ein Feld geht, weiß,
solang in der Luft der Schnee liegen bleibt,
gibt es die Schwarzpappeln dort, er meint,
im Innern genauso zu schneien und dass
es daher auch Innenpappeln gibt, immerzu,
in jedem Moment ab jetzt ist er vorbereitet.
Und genauso weiß auch ich mit einem Mal:
Pappelreihe! Das ist ein Ufer aus Bäumen,
und weiß auf einmal auch: mein Notizbuch!
Das sind Momente wie Jacken im Schrank,
im fremden Mundwinkel ein Funkeln, oder
jemand im Bus, der ihn in eine Geschichte
davonfährt. Während die Eisblumen blühen
an den Fenstern und immer was in Händen
zu halten ist, nimmt das Aufhören ein Ende.
Es schneit, als wartete der Morgen darauf,
nach einer so endlos erscheinenden Nacht
das Verlorengegangene sich wiederzuholen.
Schnee ist das, was ich nicht anhalten kann,
so als wäre jeder hier, auch in Abwesenheit.
*
5. November 2014 18:14
Mathias Jeschke
Ich liebe es, im November spazieren zu gehen, denn
es ist zur Abendbrotzeit schon dunkel und man kann
an den Fenstern der Leute vorübergehen und sie beim
Kochen und Essen beobachten. Wenn du Glück hast,
kannst du sogar sehen, wie der Mann von der Arbeit
kommt und die Kinder von ihren Nachmittagsterminen.
Du kannst den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen, wenn
sie einander begegnen, nachdem sie sich den ganzen Tag
bei der Arbeit oder in der Schule abgemüht haben. Jetzt
zum Beispiel gehe ich gerade an dem neuen Mobilheim
in meiner Nachbarschaft vorbei, wo sich jemand
allein die Nachrichten im Fernsehen anguckt. Familie
ist keine zu sehen, aber er hat ein Bier in der Hand und
eine Zigarette und er macht einen glücklichen Eindruck.
Ich trete dicht an das Fenster heran und blicke hinein.
Im Fernsehen reißen sie gerade die Berliner Mauer nieder.
Einige sind hinaufgeklettert und beginnen zu tanzen,
andere hacken mit ihren Taschenmessern herum, hacken,
bis sie ein größeres Stück Beton herausgebrochen haben,
manche von ihnen nehmen das Bruchstück mit.
Ich selbst habe ein Schweizer Messer, es hat
einen Kreuzschlitz-Schraubenzieher, und weil ich
an der Weltgeschichte teilhaben will, beginne ich
die Aluminiumplatten vom Haus des Mannes abzuschrauben.
Ich bin überrascht, wie einfach das geht: Jede Platte
eröffnet einen weiteren Abschnitt seines Wohnzimmers,
bald schon habe ich ein ordentliches Stück Wand
von einer Wohnwagenecke bis zum Fenster demontiert,
dadurch fährt ein Wind in sein Haus, so dass
der Mann seinen Kragen enger um den Nacken zieht.
Der Staatsratsvorsitzende der DDR,
Egon Krenz, spricht im Fernsehen zu seinem Volk.
Er benutzt das Wort Freiheit, es läuft
auf Deutsch und auf Englisch über den Bildschirm.
Und nun bricht er selbst ein kleines Stück aus der
Mauer – in seiner Hand wird der Beton zu Staub
und er bläst ihn mit einem Kuss in unsere Richtung,
in Richtung der Kamera und des Satelliten und
der Vereinigten Staaten von Amerika, wo ein Mann
mit einer Flasche Bier in der Hand Fernsehen guckt
und ein Mann mit einem Schraubenzieher dessen Haus
zerlegt. Es ist November. Keine Blätter mehr
an den Bäumen. Nur noch die vier Wände leisten
ein wenig Widerstand gegen die anrückende Kälte.
(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)
6. November 2014 19:53
Markus Stegmann
Im Nabelgebiet der Nacht
lösen Wangen das Haar
mäandern Mirabellen
deiner Mundschnur längs
11. November 2014 23:04
Gerald Koll
„ja, und da drüben …“, erinnert sich der mann an der berliner mauer, und die anderen erinnern sich auch.
sätze, die jeder kennt, die gleichen sätze, die gleichen erinnerungen wie vor fünf jahren. alle fünf jahre fallen an der mauer die gleichen sätze. nur die, die die sätze sprechen, sind wieder fünf jahre älter geworden. daher wirken die sätze etwas gealtert. wer diesen sätzen zuhört, wird sich daran erinnern, wie er vor fünf jahren dieselben sätze gehört hat. und weil sich für den erinnernden im augenblick der vergegenwärtigung der zeitabstand zu einem nichts verkürzt, gewinnt er den trügerischen eindruck, dass alles um ihn herum älter wird außer er selbst. anders stand er ja auch vor fünf jahren nicht zwischen den anderen erinnernden. er war damals ebenso enttäuscht über das ausbleiben der festlaune, auf die er sich doch so sehr gefreut hatte, als er sich unter die feierlich gestimmten fremden mischte. aber wieder nichts. hätte es wenigstens eine überraschung gegeben. wäre wenigstens herr wowereit, als er den hebel am fuß seines lichtballons umlegte, mit erwartungsfroh in den nacken gelegtem kopf selbst in die luft aufgestiegen.
12. November 2014 18:48
Gerald Koll
kennt ihr das wettergeschehen am berge, wenn ihr vom biwaklager aufschaut in die schroffen steine, in die ihr hinein sollt am nächsten morgen? und auf schaut ihr und seht die wolken sich stülpen über die gipfel und einsinken ins tal. nur scheinen sie zu zögern und sich auf die drohgebärde zu verlegen. sie sinken und heben sich, sinken wieder, steigen wieder. zu langsam, als dass sie wippen würden. zu schnell, als dass man nicht gebannt hinüber blicken würde in die wesen, die uns morgen früh verschlingen werden.
13. November 2014 14:04
Sylvia Geist
„(…) durch den Wald wie durch einen Tunnel. Die Landschaft verbirgt sich hinter der Landschaft. Unter den Wolken scheinen die Berge schwarz und kahl. Nur wo man den Tunnel verlässt und der Baumvorhang längs des Highway aufreißt, sieht man für ein paar Sekunden, dass es der Wald selbst ist, der steinern wirkt durch den dichten Bestand. Steinerner Wald: So hart muss hier ein Aufstieg sein.
(…)
Das Weiße Wasser versteht sich mit dem steinernen Wald.
Weiß ist das Wasser, das sich in lauten Schnellen ergießt, weiß wie der Schnee, der noch liegt, wie auch der verschwundene Schnee, der den Bergwald verwüstet zurücklässt, weil der Boden vom Schmelzwasser weggewaschen wird, jener Schnee, der, ist er erst vollständig zur Vergangenheit übergelaufen, den Wald zu einem steinernen gemacht haben wird, zu einem Stellvertreterwald aus denselben Felsen, auf denen der frühere wuchs.“
20. November 2014 10:54
Andreas H. Drescher
Wochentags war die Anhöhe nur ohne Musik zu haben. Trotzdem betrat sie die Wiese in ihren besten Schuhen, scherte sich nicht um die Pfütze, in der sie stand und erwartete ohne Ungeduld die Ankunft des Vergessers. Angeblich das des größten Vergessers der Welt, eines Vergessers, dessen Vergessen so umfassend war, dass es im Umkreis von neun Kilometern alles und alle erfasste. Selbst die Kühe vergaßen das Wiederkäuen, die Blumen das Sich-Öffnen und die Steine das Sichaushöhlen im Regen. Aber das hatte sie doch nicht erwartet: Der Große Vergesser hatte sich derart selbst vergessen, dass er nur mit einem Schuh auftrat. Der zweite Schuh bestenfalls noch Hintergrundrauschen im Auftreten des ersten. – Ihr wurde angst und sie rannte querfeldein in Richtung des zehnten Kilometers.
20. November 2014 16:06
Christine Kappe
Und da sehe ich eines Morgens, lange vor Sonnenaufgang, „Kabakovs Fliege“: in Gestalt einer lebensmüden Wespe sitzt sie an der Briefkastenanlage in der Wilhelmstraße 6 und wärmt sich im Licht der Außenbeleuchtung. Es ist ein milder Herbst, aber sie wird nicht mehr lange zu leben haben. Sie bewegt sich kein Stückchen, während ich die Zeitung einwerfe, was für dieses kleine Tier ein plötzlicher Sturm, ein kleines Erdbeben bedeuten muss.
Die Fliege war – bevor Kabakov über sie schrieb – ein kulturell wenig aufgelades Motiv, mies gezeichnet, hing sie, vergilbt, herausgerissen aus einem Kinderbuch, umgeben von gnoseologischer Leere, auf seiner Veranda.
Meine Wespe ganz ähnlich: farblich matt, leblos, angestrahlt von einem überdimensionalen Schweinwerfer, als würde sie auf einer Bühne stehen, um sie herum schwarzes, rein funktionales Metall, rostfrei, welches sich nur wenig aus der lichtlosen Nacht herauslöst, Nacht, oder endloses, dunkles Häusermeer. Die Erscheinung weist in zwei Dimensionen: Einmal begegnet mir hier ein Fitzelchen von der riesigen Natur. Andererseits zeigt ihr resthaftes Dasein, wie der Mensch die Natur nicht achtet, sie quasi neben ihm herexistiert.
Das Ignorieren dieser Parallelwelt ist gleichzeitig die Bedingung für unsere Verwunderung, unser Erschrecken: Ist es nicht übertrieben, diesem winzigen Wesen so eine Aufmerksamkeit zu geben? Und wir ahnen: Nein, ganz im Gegenteil, hier IST etwas, während wir nur sein wollen.
22. November 2014 00:41
Mirko Bonné
Sie wissen, alles Ferne hat Augen.
Stumm folgen ihnen große Wagen, und
da sind immer Hunde in den Schatten, die
hinter Hagebuttenhecken flach im Gras liegen
und nach Sterben und roten Tränen riechen.
Sie sind Muldenvögel, lieben Laubkrater,
sind schlehenbeerenversessen, einer
auf einem Bein ist gleich Baum.
Nachts weite Pampa. Träume, blau.
Keiner wird je vergessen, was war, nur
die dreizehn Alten, die an dem Tag
durch den Zaun brachen, runter
zum Ufer rannten und hinüber
über die Wakenitz kamen,
sehen das Leuchten nicht mehr,
das ihnen da hell vor Augen stand.
Die Nandus sammeln im Maiswald
Beiträge zur Geschichte der Freude,
ein unerklärlich langsames Schreiten.
Goldene Sterne funkeln den Jüngeren
in den Augen, die im Dunkeln in Törpt
an die Maurine laufen zum Saufen
und erschöpft zitternd ausruhen
unter zwei verrosteten Tankwagen.
Sie rupfen sich Gras, das Nachtgras
im Knickschatten, und sie wärmen
einander, beinahe hundert, auch
wenn keiner von ihnen noch ein Bild
für den Nanduweg weiß, namenloses
freies Hinfliegen knapp über dem Laub,
hinter der Stirn nur die Wärme der Liebe
zum Rennen durchs dunkelgrüne Licht.
Für Tom Schulz
*
22. November 2014 23:58
Markus Stegmann
Deine busblauen Blumen im
Blattlichtgewitter der Teile
kleb ich fuchsrote Farne
zu Fragmenten frier sie
mit Fingern zwischen Buchstaben
im Grün der Büsche ein die
birkenblattlose Sammlung der
Hoffnung auf vergiss mein
mageres Schauen nicht am klanglich
sag einfach gesammelte Blicke vielleicht
verdecke lieber noch verstecke
mich in deinen Bildern
blanken Balladen träum ich
oder wandre im Wald
busblauer Blumen
Für R.F.
24. November 2014 23:17
Tobias Schoofs
kleine dinge wie klinken
zum öffnen und schließen
von türen kauft man im
baumarkt ganz nebenher
sucht man aus was zum haus
passt aus messing verchromt
mit kosten im kopf macht es
sinn gleich zwei garnituren
zu kaufen: eine öffnet
im sommer die türen · die andere
schließt sie im winter
keiner bemüht sich um klinken
die doch nichts tun als türen
öffnen und schließen
26. November 2014 00:53
Andreas Louis Seyerlein
6.42 – Ich stelle mir eine Maschine vor, die fliegen kann, eine kleine Maschine, nicht größer als eine Murmel in Kinderhand. Zarteste Rädchen und Schrauben und Gewinde sind in ihrem Innern zu finden, Batterien von der Größe eines Bergschneckenherzens weiterhin, sowie eine äußerst filigrane Funkantenne, ein Linsenauge und Mikrophone oder Ohren, die in der Nähe des Auges derart montiert worden sind, dass sie in der Lage sein könnten, eben genau jene Geräusche aufzuzeichnen, die sich vor dem Auge des Flugwesens einmal abspielen werden. Vielleicht darf ich verraten, dass es vornehme Aufgabe der Maschine sein wird, zu schauen und eben zu fliegen. Man fliegt mittels Propellern, die sich so schnell bewegen, dass kein menschliches Auge sie wahrnehmen kann. Ein helles Summen oder Pfeifen ist in der Luft, und ich dachte, man könnte sich vielleicht an Moskitofliegen erinnert fühlen, sobald sich eine der kleinen Maschinen näherte, obgleich sie niemals stechen, nur Lichtproben nehmen. Darüber hinaus gehend stellte ich mir Läden vor, die sich wie Stützpunkte für Flugmaschinen benehmen, Magazine, die überall in unserer Welt existieren werden. Für drei oder vier Dollar die Stunde könnte ich mir von meinem Computer aus ein fliegendes Auge leihen, um an einem schönen Sommerabend, im November zum Beispiel, in Buenos Aires durch die Luft zu spazieren. Ein Alptraum. – stop
> particles
30. November 2014 22:43