Christian Lorenz Müller

~

Morgens wimpert Gras
um die Kastanienaugen.
Tautränen trocknen.

4. Oktober 2015 21:08










Tobias Schoofs

TO NIKKI BELL

es war nicht meine absicht hier so offen
rumzuliegen dass du mich lesen kannst

oder gar musst. deine mutter hat in alten
sachen gekramt gekritzel gedichten von georges
bataille und william blake und schlimmerem

und dabei staub aufgewirbelt in dem sonst
staubfreien wohnzimmer und dabei mich
produziert und auf dem tisch vergessen

jetzt kommst du aus der schule und liest
komm eines tages denn mit deinen texten

5. Oktober 2015 23:16










Mirko Bonné

Mittagsschlaf

Zeit war es, dass es Zeit war?
Nie war’s Zeit gewesen, nie
würde es Zeit werden. Es war
die Zeit der Spinne, der Schlange.
Sie waren Mauereidechsensekunden,
diese Minuten des Hundertfüßlers, und
wurden endlich zur Heuschreckenstunde,
zu den Zikadentagen. Im Jahr der Agave
lehnten wir schlafend in der Macchia
an einem entzweigegangenen Boot.

*

6. Oktober 2015 15:01










Mathias Jeschke

FREIHAFEN von William Carpenter

Ich stehe um Mitternacht vorm L.L. Bean, rauche eine
Zigarre und spüre die sachten Paddelschläge der Kanus.
Keine Sterne über mir, keine Wolken, kein Mond, nur
der Wind. Er treibt die letzten Ulmen in einen Traum
vom 19. Jahrhundert, als sie noch grün und gesund
waren. Auch die Kleinstadt träumt. Alte Paare träumen
dicht beieinander von Sex. Eltern träumen von viel Geld.
Kinder träumen, sie werden von Spielzeugen angegriffen.
Ganz anders läufts im L.L. Bean. Nächtliche Käufer
durchstreifen die erleuchtete Wildnis. Ein Mann
in kompletter Watbekleidung testet eine Fliegenrute.
Typen in Daunenparkas mit Tarnmuster fahren
auf Heimtrainern, als nähmen sie teil an einem Rennen
für stillstehende Gegenstände. Und jetzt kommt ein Paar
mit großer, grüner Tasche, darauf ein Hirsch und Bären-
Motiv, voller Einkäufe, aber sie wirken nicht glücklich.
Etwas ging schief im Laden. Der Mann ist mürrisch,
die Frau bekümmert. Sie fangen an, ihre Lippen
zu bewegen, um zu sprechen, doch es kommt nichts raus.
Taube sind sie, versuchen mit ihren Händen zu streiten, in
Gebärdensprache schnappen ihre Worte nach einander wie
Fuchsköpfe, so heftig, dass sie einander fast erwischen,
nicht aus ihrer eigenen Wut, sondern aus dem unvorstellbaren
Ärger der Hände darüber, nicht sprechen zu können – ich denke
dabei an meinen eigenen Körper in seinem Hauthandschuh –
stummer Bauch und stumme Arme und Beine, was kann er
sagen, was kann er verstehen? Dann aber haben sie es
geschafft, ihre Hände betasten einander, kommunizieren,
greifen in die grüne Tasche nach ihren beiden
khakifarbenen Rangeley Lachshüten mit Pelzbändern
zum Befestigen der Fliegen. Sie holen ihr L.L. Bean-
Köder-Set heraus, öffnen es, schmücken ihre Hüte
mit den Fliegen und gehen auf der Hauptstraße des Freihafens
durch eine Stille, die eine Straßenlampe einfasst, einen Polizisten,
der sich eine Zigarette anzündet, und die kleinen Fliegengebinde:
Steinfliege und Koppe, Black Ghost, Maifliege, Grey Goose,
Rote Waldameise, Professor, Parmachene Belle.

Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke.

6. Oktober 2015 21:32










Markus Stegmann

Warum?

Zwischen Fingern
tastete
ein Gesicht
zögerte und begann
aber
welcher Sog zum Tod
aus nahen Haaren
verformte sich zwischen
verwunschenen Lippen
die letzten Zentimeter
schienen die schwersten
als läge
auf kürzester Distanz
ein
Fassen/Unterlassen?
kaum hörbares Wimmern
im dünnen Luftstrom
am Nabel verliess
grauer Morgen
schlafendes Schilf
klammer Mund hing dort
warum
verfiel unser Mond?

6. Oktober 2015 21:49










Martin Piekar

Bukowskis Pfand

I

Stell die Flasche bitte neben den Mülleimer, sagt
Ein Du zu dem dusseligen Ich, welches Gepfändetes
Gerne städtisch zurücklässt. Aber Erinnerungen an
Die Schwere des Leerguts. Aber Leere v/erträgt mein

Gemüt nicht. Das Getränk, getrunken ist für mich alles,
Was zählt. Aber jede Flasche zahlt. So lind, so zerdrücklich
Als Existenzgrundlage. Plastik packt sich. Beutelwärts
Und in Geldkatzen; die Person wird Leergut. Bukowski

Würde auch Flaschensammeln sagst du, dann Hartz IV,
Dann PET-Bier, dann Wettbüro, Pferde natürlich, sage ich,
Ein Auf und Ab, ein Auf und Ab geben, gehen, heben, wenn
Ich nur eine Minute in Ffm stillstehe, sehe ich sie. Wenn.

II

Stellt die Dosen bitte neben den Mülleimer, sagt ein
Hosenanzug zu Schulranzen. Aber das nennen wir nicht
Arbeit: schwere Bücher, Pausenbrot, Energydrinks.
Wieso haben wir keinen Platz für Leere? Eine Gruppe

Wird weitergeleitet. Eine andere: Pfandgut, gestrandet.
Vielleicht bringt sie ihnen nicht nur Sozialverhalten
Bei, sondern lehrt ihnen in Zukunft zu jagen. Die
Pfandflasche das Beutetier des 21. Jahrhunderts.

Mir wird klar, dass vor mir auf grauer Betonplatte ein Rudel
Dezembers angesiedelt und bereit jedwede Wiederholung
Einzupfänden. Ein Weihnachtsgeschenk rein
Aus Verpackungen collagiert. Wenn man sich um Inhalt

Einen Dreck schert, sich aufs Umtauschen freut und
Einen Rutsch ins Neue macht. Gesell mein Ex-Wasser
Dazu. Bukowski könnte daraus sicher Bier machen.
Gleich kümmert sich jemand. Pfändet die Pirsch. Gleich.

III

Stell die Pfandflasche neben den Mülleimer, Man! Sage
Ich und das dusselige Du schaut mich verdutzt an. Stell
Sie einfach nebendran! Nicht rein. Ich schnaufe dich
Besoffen an und im Hinblick auf den Main willst du

Kontern, was Umweltverschmutzung sei. Nach ein
Paar von Bukowskis Drinks sage ich dir, dass du ihn nicht
Lesen kannst, um zu kompensieren, dass du ihn nicht
Leben kannst. Weißt du, wer Pfandflaschen sammelt,

Kann sich nur die Großstadt leisten. Pfandtoursimus.
An Spieltagen sind Züge Beutezüge. Eintracht als
Gewerkschaft des Mehrwegkollektivs. Es geht nicht
Ums Karma. Es geht um uns. Als wir aufstehen und

Vom Main hin weggehen, singt Straßenchor Kyrie
Duweißtschon. Ich weiß nicht. Die PET meldet wie
Eine Bushalte. Ein Greifarmspiel in Mülleimern. Das
Gefühl zum Gewühl in Abfall oder in Vermögen. Alles

Sammeln hat Route. Routine das kommt von Route. Ein
Soundtrack in G-Duld: Das Abgraben der Mülltonnen per
Radar. Jetzt stell dir etwas noch viel Ekelhafteres vor:
Dabei zuzusehn wie ein fremder Mensch es tut. Jetzt.


7. Oktober 2015 10:26










Mathias Jeschke

DIE JAGDADLER AFGHANISTANS von William Carpenter

Heute Morgen, wir hatten bis zwei hier in Venedig in einer Bar
getrunken, der Kellner bot uns immerzu Tintenfisch und Eier
aus einer Glasschüssel an, schläfst du weiter. Und obwohl ich
die Läden für den Lärm des Gemüseboots öffne, für den Mann,
der feilscht um Gewinn und Verlust, den Klang der Pfahlramme,
die auf der anderen Seite des Kanals einen alten Palast abstützt,
schliesst du deinen Mund, und ich kann sehen, wie dein Traum
sich selbst unter deinen Lidern folgt, wie jemand, der eine Zeitung
liest oder ein erregendes Magazin im Dunkeln.
Wie kann ich dich da wecken,
und sagen, dass es für den Tod keine Überschriften gibt, dass die Stadt
Venedig, die über der schmiedeeisernen Brücke schwebende Wohnung
schon weiter entfernt sind von uns, als wir überhaupt greifen können?

Einmal besuchte uns ein Mann mit zwei Alaska-Hunden
die zur Hälfte Wolf waren, vielleicht mehr als zur Hälfte, mit ihren
weißen Augen und der Art, in der sie den Hasen jagten im Schnee.
Wir fanden einander blind. Und sogar
die Jagdadler Afghanistans tragen Kappen über ihren Augen
bis zu dem Augenblick, in dem das Wild in die Enge getrieben ist. Dann,
aufgedreht von Pflichterfüllung oder Hunger, dürfen sie fliegen.

Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke.

9. Oktober 2015 21:55










Tobias Schoofs

ALLES FLIESST

die flüsse fließen grün und blau
zum meer und aus den ohren rot
heraus und aus den nasen augen
aus den körpern in die rein sie

erstmal fließen immer kreisrum
durcheinander eitrig unschön
und von bildern fast verstopft
ganz leise ohne klappern auf den
zehenspitzen ohne gegen

wehr und ohne sinn und ohne
syntax ohne irgendwas das
dieses fließen langsam macht
es ist die flut von fern gesehen

19. Oktober 2015 20:02










Mathias Jeschke

Ein Gedicht von William Carpenter

EIN BANNSPRUCH, DER DEM HERZEN DER VERSTORBENEN NICHT GESTATTET,
VON EINEM KROKODIL GEFRESSEN ZU WERDEN

Ich saß in der Küche und polierte das Silber. Ich polierte
einen Löffel und hielt ihn mir vor Augen. Das sah aus wie das Gesicht
eines Mannes, das von seinem Schädel entfernt und über die Oberfläche
eines Eies gespannt worden war. Ich hielt das Messer so, dass sich darin
der Atlantische Ozean und auch die kleinen Büsche um die Veranda spiegelten,
die in dieser Jahreszeit beladen sind mit allerlei Arten von Zugvögeln.
Ich wollte der Reise gedenken, die die Toten unternehmen, obwohl ich weiß,
dass es sich um eine Redewendung handelt, dass wir die sind, die weiterziehen,
dennoch unternehmen sie eine Reise, die mit der unseren verwandt ist.
Verständlich, dass die Ägypter es sich wie ein Boot vorstellten, und in tausend
Träumen erblickte ich meinen Körper als eine Jacht, krängend mit uns allen
an Bord, Bier in der Hand, oder sogar sinkend in irgendeiner Art Seenot.
Sie nahmen es wahr als Schilfboot in düsterem Wasser, verloren
oder von Krokodilen bedroht, die in so vielen Tarnungen auftauchen.
Eine mochte der alte griechische Mann sein, der Gemüse wog auf den Waagschalen
des kleinen Kaufladens an der Ecke, ein Mann, den es schon so viele Jahre
gab, dass wir annahmen, er sei einfach nur ein Mensch.
Oder es könnte der Mann sein, der Sperrholz und Kantholz verkauft
auf dem Tag und Nacht geöffneten Holzplatz, dessen Blicke so sanft waren,
du machtest dir meist Sorgen um seine Finger an der Kreissäge.
Vielleicht hättest du dein Herz einem Krokodil angeboten. Das schien
eine beständige Gefahr. Als wir mit dem Kanu außerhalb des Hafens waren,
warfst du unsere beiden Thunfisch-Sandwichs den Möwen zu.
Fertig mit dem Silber, der Rasen muss gemäht werden, zum ersten Mal.
Es spielt keine Rolle, was den Winter hindurch alles passierte,
das Gras kommt wieder durch, die alten Halme wachsen mit derselben
blinden Energie, dieser Energie all der augenlosen Dinge.
Das Gras wächst und du musst es mähen, selbst wenn du
unter der Erde die Geräusche der Krokodile hörst, die Geräusche
der Toten, die rückwärts blickend rudern in ihren Booten.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)

19. Oktober 2015 21:06










Mathias Jeschke

Ein Gedicht von William Carpenter

EIN BANNSPRUCH, DAMIT DAS HERZ NICHT IN DIE UNTERWELT GETRAGEN WIRD

Es ist das zweite Maiwochenende und ich hatte den Tisch auf die Veranda
gebracht. Ich hatte mir ein “Molson Golden” aufgemacht, um der Mannschaft
des ersten Segelboots zuzuprosten, das seinen Weg über die Bucht nimmt,
Die erste Einsiedlerdrossel singt im Fichtenwäldchen, ihre vier oder fünf
zeitgleichen Flötentöne bringen die Luft dazu, gläsern zu werden.
Es ist schwer, sich heute Abend die Unterwelt vorzustellen, überfüllt
von den Booten der Toten, dunkel und – still, außer den Schreien
der Leute, die erkennen, dass ihre Herzen entfernt worden waren und
dass sie sich nicht mehr an die Gesichter ihrer Familie erinnern oder die
Körper ihrer Ehemänner, die treu neben ihnen geschlafen hatten Nacht um Nacht.
Ich beobachte ein kleines Hummerboot mit Außenborder, das einen einzelnen
Punkt umkreist, als würde es nach etwas suchen, einer Falle aus dem letzten Jahr
oder einen im Winter verlorenen Anker oder Motor. Man kann dort drei, vier
Meter tief sehen, vielleicht sechs, wenn man das Gesicht eintaucht. In der
Unterwelt ist das Wasser tintenschwarz und die Fischreiher am Ufer, sie fischen
nicht, sondern beobachten aus den Augenwinkeln die Reisenden.
Manche sind echte Reiher. Die anderen sind Götter des Schreibens und der Literatur.
Die Reiher der Unterwelt haben selbst keine Herzen und
ich hoffe nur, dass es ihnen nicht gelingt, deins zu entfernen,
sondern, dass du es bis zum passenden Zeitpunkt in deiner Brust trägst.
Ich erinnere mich, wie sie in Venedig einen kleineren Kanal ausbaggerten.
Sie versiegelten ihn und legten ihn trocken, drei Männer arbeiteten
in unerträglichem Dreck, ein blaues Boot an ihrer Seite und auf dem Heck
ein rotkariertes Tischtuch, drei Gläser, eine Flasche italienischer Wein.
Festlich kann es bei jeder Gelegenheit zugehen. Auch das Herz ist eigenständig.
Es bleibt ruhig oder aber es singt vom Grund seiner Tiefe.

(Aus dem amerikanischen Englishc von Mathias Jeschke.)

21. Oktober 2015 21:33










Sylvia Geist

How a Poem …

—> Happens
William Carpenter im Gespräch

mit herzlichen Grüßen an Mathias

22. Oktober 2015 11:29










Christine Kappe

Weiße-Kreuz-Platz

Wir können ja nicht einfach hergehen und schlafen
Wir können hergehen und den nicht arm, nicht arbeitslos, nicht schlecht aussehenden Mann, der um 11 schon das 3. Weizenbier trinkt, fragen
ob er mal etwas spendet oder ob er Drogen hat oder ob er weiß, wos langgeht
(Puffbesitzer – der wird die Krise überstehn!)
Früher haben mein marokkanischer Freund und ich den Krieg immer mit einem tragbaren Fernseher verfolgt
aber nur bis zur Schlägerstraße

26. Oktober 2015 07:23