Andreas Louis Seyerlein

~

3.25 – Bahnsteig 23, Centralbahnhof, Dienstag, 28 Minuten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunklem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von ebenso schwarzer oder dunkelgrauer Farbe, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht einmal drei Stunden ist es her, dass sie an diesem Ort eingetroffen ist. Ich höre, der junge Mann, der an ihrer rechten Seite sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewesen, der die alte Frau aus dem Zug getragen hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte, so erschöpft waren ihre Füße vom wochenlangen Wandern durch halb Europa, außerdem waren zuletzt Schuhe kaum noch vorhanden. Ein Mädchen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroßmutter geborgen und schläft. Eigentlich müssten da noch zwei Jungs sein, der ältere Bruder des kleinen Mädchens, aber der ist tot, und auch ihr jüngerer Bruder ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mutter nicht, da ihre Wohnung von einer Granate getroffen worden war, als das kleine Mädchen auf die Straße rannte ganz allein, was eigentlich verboten war im November des vergangenen Jahres in einem Dorf 16 Kilometer weit entfernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroßvater des überlebenden Mädchens ist nicht da, weil er tot ist. Allerdings ist der Urgroßvater zur üblichen Zeit eines natürlichen Todes gestorben und in Form einer Fotografie nach Europa mitgekommen, die die alte Frau in diesem Moment in ihrer Hand hält und betrachtet. Ihr Sohn, der Vater des jungen Mannes, der seine Großmutter aus dem Zug getragen hatte, spricht gerade mit einer fröhlichen Person, die eine Weste trägt, welche leuchtet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er versucht der jungen deutschen Frau zu erklären, dass er vor Stunden seine Ehefrau aus den Augen verloren habe, er sagt immer wieder ihre Namen auf, damit man unverzüglich nach ihr suchen könne. Sein Sohn, der junge Mann, der neben seiner Großmutter sitzt, erzählt indessen in englischer Sprache, seine Großmutter habe das Dorf, aus dem die Familie vor Monaten geflüchtet war, in ihrem ganz Leben nicht ein einziges Mal verlassen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in diesem Nordland, Bahnsteig 23, Centralbahnhof, versteht kein Wort, von dem was da so überall um sie herum gesprochen wird, und streicht mit ihren Händen behutsam über das Haar des schlafenden Kindes. Immer wieder schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass diese Füße ihre eigenen Füße sind. Vorsichtig bewegt sie sie hin und her, noch keine Viertelstunde ist vergangen, da hatte sich ihr Enkel vor ihr niedergekniet, um ihr nagelneue feuerrote Turnschuhe anzuziehen von Puma. – stop

0.22 – Wäre es nicht vielleicht doch sinnvoll, anstatt unschuldige Kindermenschen der Stadt Rakka zu bombardieren, elektrische Datennetze zu attackieren, welche von Riad aus Gotteskrieger mit Entwicklungshilfe versorgen? Immer wieder das Fragen üben. Auch nach Fragen suchen. Gestern sprach ich mit einer jungen Muslima über ihre Schulzeit, viel zu kurz, sagte sie, viel zu früh zu Ende. Es ist so, dass sie, H., der festen Überzeugung ist, von Adam und Eva unmittelbar abzustammen. Da sie jedoch nicht dogmatisch lebe und denke, wäre sie bereit, zu akzeptieren, dass ich, Louis, ein Affenmensch sei oder eben ein Menschenaffe. Wir lachen ganz herzlich. It works! – In der vergangenen Nacht habe ich mein Radio gelehrt, in der beruhigenden Sprache der Nachtzikaden zu sprechen. Guten Morgen! – stop

> particles

3. Dezember 2015 21:13










Tobias Schoofs

DAS UNSICHTBARE BILD

hier hinter ist das bild verborgen
die pigmente sagt der guide
hat man nachgewiesen aber
noch ist es nicht freigelegt

es zeigt ein wollknäuel aus pferden
auf ihrem rücken amüsiert sich
cosimos katze er lacht und geht
eine rauchen beim gespräch

enthüllt er dann: es sieht so aus
wie guernica beim luftangriff
wer will das sehen · man ahnt

und das genügt wer braucht denn
die stummen schreie der biester
das bringt sie auch nicht zurück

5. Dezember 2015 16:34










Mirko Bonné

Vela Luka

In den hohen Oliventerrassen,
wo Lavendel wächst, Fenchel, Majoran,
wenn du zwischen den Steinzäunen hindurch
dort in den Mittag wanderst, achte
auf den hornissengroßen Vogel
oder Fastvogel, Schwärmer,
sein Schwirren
von Blüte zu Blume,
Blume zu Blüte. Im Flug
taucht sein Schnabel in alles
bunte Offene, in jeden Lichtmund,
und es gibt für ihn keine Sonne, keine,
die zu schwach wäre. Lass Falter gaukeln!
Schwarze Raupe steigt vom Dach
des Trafostanicahäuschens
ins leuchtende Gras,
wartet auf nichts,
erwartet nichts,
geht und ergeht sich
mit einem Schwarm Luft
trinkender Fische als Beine. So
solltest du vielleicht auch gehen? Ja.
Komm und bleib eine Weile, bevor du
unten am Hafen verschwindest,
wo die Lastwagenfähre
lautlos die Bucht zerteilt und
im Schatten die Kräutergärten schlafen.

*

10. Dezember 2015 13:51










Christian Lorenz Müller

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Im Kräutergarten
lecken die Salbeizungen,
schwarz belegt vom Frost.

11. Dezember 2015 09:42










Markus Stegmann

Schuld am Krieg

Frau Atnan sagt, ich sei schuld am Krieg, ich allein sei schuld. Ich antworte Frau Atnan, dass das nicht sein könne, weil ich zum Zeitpunkt des Kriegs noch gar nicht gelebt hätte. Mein Leben habe erst geraume Zeit später begonnen. Frau Atnan sagt, ich sei trotzdem schuld, weil ich den Krieg im Blut hätte. Ich antworte Frau Atnan, dass ich den Krieg weder in meinem Blut wünschte noch ihn darum gebeten hätte, sich in meinem Blut bemerkbar zu machen. Und überhaupt, was solle das heissen, einen Krieg im Blut zu haben? Genau genommen meine sie: Kriegsgefahr. Von mir ginge Kriegsgefahr aus. Ich versichere Frau Atnan, dass ich in der Vergangenheit nie Krieg geführt habe und auch in Zukunft nie an Kriegsführung denken würde. Frau Atnan sagt, es sei das Potential, das an mir kriegsgefährlich sei. Ich würde von ehemaligen Kriegsteilnehmerinnen und -teilnehmern abstammen, infolgedessen sei ich gefährlich, weil ein potentieller Kriegsteilnehmer oder, noch schlimmer, ein potentieller Kriegsverursacher. Ich antworte Frau Atnan, dass sie mir bitte sagen möge, wer auf der Welt ohne kriegsführende Vorfahren sei. Frau Atnan sagt, dass sich genau damit alle Kriegsführenden reinwaschen würden und den Krieg von Generation zu Generation legitimierten.

15. Dezember 2015 22:45










Hans Thill

gefährlich am Rhein

pente glissante

16. Dezember 2015 16:04










Mirko Bonné

Dub

Dub? Dahin geht es
bergan, bergauf, bergan,
so kommst du nach Dub.
Nur was anfangen da?
Da endet bloß alles.
Dort gibt es ja nichts,
es ist alles aus in Dub,
Dub ist selber nichts.
Es ist nicht Žrnovo.
Es ist auch nicht Brno.
Dub war noch nie Dubrovnik.
Wer nach Dub kommt, fragt sich:
Das hier also soll Dub sein,
dieses durchsichtige
dubiose Dunkel?
Duplizier Dub,
und du bekommst
nichts, du kriegst
nur Dub. Aber gut, los,
geh nach Dub! Dub wird dir
zeigen, wie es ist: Dub!
Dub ist, wie du bist.
Also bist du Dub?
Du musst Dub sein.

*

18. Dezember 2015 15:14










Tobias Schoofs

GESUALDO

zum frühstück hammelniere und
gesualdos mordgeschichte

wo auf den stufen des palastes
leichenteile stinken chromatische
musik von mauern widerhallt

wir hören leise beim geschehen
im keller masochisten schreien
schließen die augen und lauschen

zum frühstück gesualdo und
zarter urindunst am gaumen dazu

22. Dezember 2015 21:25










Hans Thill

vorsichtig an der Sava

treppenkerl

23. Dezember 2015 12:30










Markus Stegmann

Auswendig gelernte Kehlen

Tatortloser Dezember
laminierte Asche meines
Vogels verflogen
sich zwei Lilien schreibst du
unsere Hände
in Papier
gewickelter Film
Kleiner Wannsee blühte
im Irak rekapitulierter Bilder
transponierter Tempel
wessen
auswendig gelernte Kehlen
trieben
mit ausgefalteten Flügeln
langsam
den Wannsee hinaus
hantierte ich wohl
mit falsch
verbundnen Lippen

27. Dezember 2015 22:29










Nikolai Vogel

31.12.2015

Der Regen fast Schnee,
und 2015
jetzt fast Geschichte,
und 2016
kommt aus der Zukunft.

31. Dezember 2015 15:21