Christine Kappe
Thorsten hatte einen Holzkopf. Deswegen hörten alle auf ihn. Wenn er redete – und er moderierte ja immer die Wochentage – schlug er sich ein paar Splitter vom Schädel. Damit unterstrich er seine Worte. Das sah beeindruckend aus. Manchmal ließ er absichtlich ein paar Späne hängen, sie lockten sich dann und ließen seinen Kopf größer und schöner erscheinen. Natürlich wurde sein Kopf in Wirklichkeit immer kleiner. Aber das wollten wir nicht wahrhaben. Wir liebten nicht nur seine fetzigen Vorträge, sondern waren energetisch angewiesen auf ihn, ohne dessen Sound wir in der lähmenden Lethargie unseres kleinen Dorfes versunken wären.
2. Februar 2016 12:25
Björn Kiehne
Die zwei Punkte am Schneehang das sind wir,
wie kleine Tropfen eingetrockneten Bluts
im kalten Stoff der Landschaft.
Früher spielten wir Fußball,
hier, wo die Feldmark beginnt.
Da wussten wir nicht, dass uns später,
alle Felder zu Schlachtfeldern werden,
dass die Steine unter unseren Schritten schreien,
die Hügel vor uns zurückweichen würden,
dass wir nicht werden warten können, unseren
Schmerz immer und immer wieder weiterzugeben.
Wer stellt uns jetzt noch die Kerze ins Fenster,
wer spricht uns jetzt noch die Einladung aus?
Krieger,
legt die Waffen nieder,
lasst den Schmerz,
kommt nach Haus.
3. Februar 2016 12:45
Mirko Bonné
Ein junger Arzt sagt achtlos
deiner Tochter, die erschrickt:
„Der Tod seiner Frau, laut Akte
ist das kein halbes Jahr her.
Ein Glück, er erinnert sich
an nichts, weiß davon nichts.“
Aber wer weiß schon, hm,
was du spürst, was du
verstehst und welche
Bilder dir als wilde
Möwen um die Augen
segeln? Der Augensommer,
die Kirschbäume, die Wolken,
so weiß wie Krankenschwestern
im Klippengarten bei La grève blanche.
Natürlich, alle müssen wir sterben, solange
keiner den Tod in Frage stellt. Jede Liebe
ist ein Anker, und dein Körper, Claude,
weit oben auf der Oberfläche
der schwarze Rumpf,
treibt dort und dreht sich,
als wäre Wind aufgekommen.
Aber sieh doch das Erschrecken.
Diese Frau, die weiterlebt, weißt du,
das ist nicht deine, sie ist zur Hälfte
aber aus dir, deine Tochter ist sie,
und sobald du davontreibst,
hält sie alle davon ab,
dich aufzuhalten.
*
5. Februar 2016 11:10
Thorsten Krämer
Mit dem Wind verschieben sich die
Maßstäbe: deine Hand, schmetterlingsgroß,
auf der Rückscheibe.
Der Staub
hat die Farbe der Ziegel, frisch gebrannt
stehen sie in der Sonne.
Das Haus
des Ministers, drei Straßen weiter, gleicht
einer Ruine.
Deine Haut, die sich löst, wo sie
den Motor berührt hat – der Fahrer schmierte
Benzin darüber.
Sagte ich Straßen? Es gibt
hier keine Straßen, nur die Leere zwischen
zwei Behauptungen.
6. Februar 2016 11:56
Markus Stegmann
Da sei immer Sand gewesen, Sand an den Sohlen, und ein schmirgelndes Geräusch habe sie begleitet, wenn sie auf Asphalt gelaufen sei. Frau Atnan fährt mit ihren Schilderungen aus Berlin fort. Ich habe Berlin-Schilderungen im Allgemeinen nicht sonderlich gern. Früher schon, heute nicht mehr. Heute kommt einem jeder mit Berlin-Schilderungen. Was mich daran am meisten bedrängt, ist die Botschaft eines echteren Lebens, das in Berlin und nur in Berlin zu finden sei. Daher begegne ich Frau Atnans Berlin-Schilderungen mit Skepsis. Wenn ich aber genau hinhöre, erzählt Frau Atnan gar nicht von einem besseren Leben, sondern von Sand an ihren Sohlen.
7. Februar 2016 22:38
Christian Lorenz Müller
Eine orange Brandung aus Schwimmwesten
Traumstrände, Dörfer in weiß und blau
zu Styropor erstarrter Gischt
Salzluft, die die Lungen reinigt
verrenkte Kleider in der Macchia
Baden in verschwiegenen Buchten
ein feuchtes Kopftuch auf Halbmast
spezielle Angebote für lesbische Paare
Schlauchboote, grau gestrandete Wale
bequem erreichbar ab Frankfurt, München.
12. Februar 2016 18:48
Mirko Bonné
Wenn wir über die Wäldergrenze hinausgingen,
in die freien Ebenen, an die Flüsse. Wenn wir die Städte
und das Land hinter uns ließen. Wenn wir nicht darauf achteten,
wer mit uns käme. Wenn da ein Licht wäre, und wäre es nur
ein vorgestelltes. Nur? Wenn die Geschichte einfach
endete. Wenn endlich Geschichten anfingen!
Eine Betriebsanleitung, ein Evangelium,
eine Dichtung, eine Scheidungsvereinbarung,
ein Verschweigen, ein Gesetzesentwurf, wenn alles das
eins wäre. Wenn wir Wyoming befreiten. Wenn die Unwirklichkeit
in Wyoming aufhörte. Wenn die Zuneigung zurückkehrte.
Wenn die Zuneigung zurückkehrte mit den Fischen.
Wenn alle die Fragen wohin, wodurch, wonach, welche,
weshalb und wann die Antworten ersetzten. Und wenn alles
mit einem Mal bliebe. Hier, dort. In Wyoming, überall. Ohne Ursache.
*
15. Februar 2016 21:07
Markus Stegmann
Das sei jetzt mal eine wirklich gute Wurst, sagt Frau Atnan, und deutet mit dem Messer auf eine dunkle, fast schwarze Wurst auf dem Holzbrett vor ihr. Da musst du keine 300 Gramm von essen, es genügen zwei oder drei Scheiben. Frau Atnan schneidet sich eine weitere Scheibe ab und zerteilt sie in kleine Stücke. Da, probier mal, davon musst du keine 300 Gramm essen, es genügen zwei oder drei Scheiben. Das ist ein Aroma, unglaublich. Und sie wisse auch genau, woher die Wurst komme, fährt Frau Atnan fort. Von zwei Jungbauern nämlich aus der Nähe von Bern. Die wollten mal was ganz anderes machen. Und dann sei diese Wurst bei rausgekommen. Da ist kein Gramm Fett drin, habe ihr einer der bärtigen Jungbauern auf dem Wochenmarkt in Bern versichert. Und wenn sie die Wurst so im Stillen betrachte, glaube sie ihm sogar: Kein Gramm Fett zu sehen. Und trotzdem schmecke die Wurst, vorzüglich sogar. Diese Wurst, stelle ich mir vor, koste sicher eine Stange Geld, mir reiche da eine ganz normale Wurst, im Gegenteil, ich hätte mit hundskommunen Würsten mehr Sympathie als mit ihrer Spezialwurst. Die Normalwürste seien voll von schlechten Sachen, erwidert Frau Atnan. Sie wisse nicht, wie lange sie noch lebe und möchte ihrem Magen nicht mehr schlechte Würste zumuten. Das habe er zur Genüge gehabt, und sie auch. Dafür esse sie auch keine 300 Gramm mehr, es genügten zwei oder drei Scheiben.
15. Februar 2016 22:13
Christian Lorenz Müller
Kilometerweit um Luft gewickelt
federnde Starre spitzes Zinken
zwischen Weinbergen.
Alle Reben
wachsen entlang von Draht,
sie tragen, sie werden gestutzt.
So viele Augentrauben,
die Kelter voll von Tränen.
Scharf abgescherte Enden
schlitzen den Wind das Zappeln
einer weißen Tüte
die sich zerrissen ergibt.
19. Februar 2016 17:07
Tobias Schoofs
aus dem kollektiven gedächtnis
eine stadt in nordafrika und ein
flüchtling ein tscheche mit namen
aus ungarn erreicht nur mit not
noch die stadt auf der suche nach
visa für sich und die frau die aus
norwegen kommt oder schweden
wir jagen ihm nach aus kollektiv
vergessenen schwarz-weißen auch
völlig beschädigten bildern
21. Februar 2016 20:39
Mathias Jeschke
Ein Leitmotiv im Film über mein
Leben sind die Rufe der Bussarde.
Auf das akustische Signal folgt
der Kameraschwenk, so wie ich
immer meinen Kopf wende, um mich
neu zu orientieren, anhand der
Bussard-Koordinaten herauszufinden,
wo im Raum ich mich befinde.
Den Soundtrack liefert ein öffentlich-
rechtlicher Radiosender im Norden
oder Süden, der die Musik meiner
Kindheit und Jugend spielt, versetzt
mit knappen Informationen zum
Tagesgeschehen, einem launigen
Schlagabtausch zwischen Moderator
und Wetterfrosch und allen Toren.
Die Texte werden nach den Gesetzen
des Betriebes vergehen, ich könnte
auch gleich ein Feuer im Garten
entfachen. Dennoch schreibe ich
weiter, das gehört zu diesen schrägen
Absurditäten, die ja nicht nur mein
Leben bietet. Die Kinder zumindest
danken es mir. Und mich drängt es.
Was ich in Marbach denn abliefern
soll, wenn nicht meine Festplatte,
frage ich die Leiterin. Sie zeigt mir
einen Fotoapparat, eine Musik-Cassette
und Stachelschweinstacheln. Ich
denke an manches, was ich Zeit meines
Lebens angesammelt habe, weiß aber
plötzlich: Meine Stimme wird bleiben.
Warum meine Stimme? Meine Stimme
fügt zusammen, sie überbrückt und
vermittelt. Nicht immer freundlich,
zugegeben, aber ich bemühe mich,
ihr Manieren beizubringen. Sie findet
schnell Freunde bei Kindern, das
macht auch mir Riesenspaß. Und ich
spür immer, ja, da ist was lebendig.
22. Februar 2016 22:21
Mathias Jeschke
Ich stieg hinab ins Archiv und fand
zwei Bücher aus der Mitte des
19. Jahrhunderts. Neue Testamente,
eines in Tswana, eines in Maori,
beides im Süden der Welt.
Sie sind in London gebunden worden
von Burn & Son. Burn oder sein Sohn
hatte vor mehr als 150 Jahren
ein braunes Leder gewählt,
das mich in einen Urzustand versetzte.
Meine Assoziationen ließen mich
in einem englischen Ledersessel versinken,
ein rauchiger Whisky auf dem Beistelltisch,
das Feuer im Ofen entfacht,
Flammen, die vom Anfang erzählten.
Da lagen zwei Bücher vor mir, die mich
die Geschichte des Buches an sich
erahnen ließen. Sie sangen ein Lied,
das ich unter der Kopfhaut, auf meiner
Herzkruppe spürte: Fühle. Lies. Lebe.
23. Februar 2016 23:18
Mirko Bonné
Auf den Hecken wildes Schimmern,
Raureif. Und die Sternen gehen unter,
gehen wandern und leuchten auf fernen
Bahnen, den Zeilen am Himmel. Fasane.
Greif hörte ihr Rufen, aber bei Gryphius
verstecken sie sich zwischen Bildern.
*
25. Februar 2016 12:59
Christian Lorenz Müller
Frisch blinkt sich das Blau
aus den Tablets, den Smartphones.
Knospen pixeln Grün.
für Cornelia Anhaus
25. Februar 2016 14:41
Andreas Louis Seyerlein
4.15 – In der vergangenen Nacht habe ich wieder einmal das Käferwerfen geübt. Fred Wesley & The JB’s Same Beat bei klirrender Kälte. Folgende Käfer habe ich aus dem Fenster geworfen: 2 bunte Klopfkäfer gegen Mitternacht, 5 Marienkäfer von 1 Uhr bis 1 Uhr 30, 1 belgischen Taumelkäfer um kurz nach 2, gegen 3 Uhr 1 schneeweißen Rosenkäfer, um vier Uhr 15 2 gepanzerte Johanniswürmchen. Jedwedes aus dem Fenster geworfene Käferwesen war sofort wieder zu mir zurückgekehrt, entweder weil es ein weiteres Mal in die Luft geworfen werden wollte oder weil das Licht von meinen Zimmern her so schön warm in der Dunkelheit leuchtete. – stop
> particles
28. Februar 2016 16:03
Mathias Jeschke
Erneut spiegeln wir uns im Himmel,
während wir auf wellenden Wegen gehn,
Bäume, Sträucher an den Rändern,
wie auf einer Radierung:
ein Pärchen Rotmilane, kreisend.
Beim Eintreten der Honigduft,
wie in jenem Imkerschuppen
vor Jahrzehnten: Hyazinthen.
Die meiste Zeit verbringen wir
mit dem Buch, unserer Fernbedienung,
in der Hand vor dem Feuerofen,
immer schon der bessere Fernseher.
Ich schlafe, wäre dies
das Haus eines berühmten Dichters,
im Sterbezimmer.
Die Puppengesichter in den Wänden,
zwei kindliche Buddhas, blicken auf uns
herab, wie die ertrunkenen Geschwister.
Der Gekreuzigte auf der Holztruhe.
Der Gekreuzigte an der Gartentür.
Der Gekreuzigte auf dem Ofensims.
Der Gekreuzigte im Schrank unter der Treppe.
Im Schlaf wischt meine Mutter
den Schlaf mir aus den Augen.
28. Februar 2016 22:15