Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (197)

5. Mai 2016, ein Donnerstag (Christi Himmelfahrt)

Kurz nach der Rückreise träumte ich, ich fliege zusammen mit Schwester U. in einem Gefährt einer klüftigen Felswand entgegen. Es sah schon ganz danach aus, als müssten wir zerschellen, als ich eine höhlenartige Ausbuchtung entdeckte und genau darauf zusteuerte. Die Höhle ging über in eine Art Natur-Kamin, durch den wir denn auch steil aufwärts stiegen. Die simple Surrealität war so verräterisch, dass ich noch im Flug merkte, dass es sich um einen Traum handeln müsse.

Entsetzlich: Am Dienstag war der Junggesellenabschied von T. Ein völlig aus dem Ruder gelaufener Bräutigam nutzte das pflichtschuldige Wohlwollen seiner Gäste schamlos damit aus, sie mit einer Kette von Episoden (wenn’s wenigstens Eskapaden gewesen wären) seines Lebens und Liebeslebens zu erwürgen. Was für eine egomane Verzweiflungstat, was für eine Panikattacke im Angesicht der Eheschließung. Oder einfach nur stupide egoman und hilflos-konservativ. Oder war das nur ich, der das so wahrnahm? Allerseits nahmen wir Zuflucht in andauerndes Gläserheben und Hochlebenlassen (ein Wetttrinken gegen die Ausnüchterung beim Zuhören, aber es war einfach nichts zu machen), ich suchte Deckung hinter ironischen Einwürfen, um später, wenn der Schöpfer mich als Mitläufer T.s zur Rede stellt, mich auf die Widerstandsklausel zu berufen. Traurig.

5. Mai 2017 07:12










Markus Stegmann

Lerchen und Quellen

Du hast den Vogel mir gefangen
er war so leicht und war so frei
nun ist das Fliegen ihm vergangen
der Frühling kam und ging vorbei

Es liegen seine Federn hier
und nimmer können sie mich heben
aus der Lagune Meer Papier
die Nächte neue Vögel weben

Kaum dass wir beide uns besannen
da kreisen Vögel überall
wir gehen sprachlos schon von dannen
da überrollt uns Vogelhall

6. Mai 2017 22:33










Christian Lorenz Müller

BITTE BEACHTEN SIE

Kein Fenster, ein Bilderrahmen
in den eine junge Frau sich selber malt,
Sitzende in Betrachtung der Sonne.
Daneben ein Stilleben
mit Lampe und Ikea-Regal

sowie die bekannte Schwarze Katze
neben grün gestreiftem Vorhang.

Bitte beachten Sie: Die Ausstellung
schließt spätestens am Abend,
es schließen sich die Fenster
des Wohnblocks, und das Lächeln
der jungen Frau verschwindet.

7. Mai 2017 11:57










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (198)

8. Mai 2016, ein Sonntag (Muttertag)

Erwacht mit Kopfweh und dichten Nebenhöhlen. Erhöhte Kopflagerung, dann nach kurzer Lektüre zurückgesunken in traumhaften Schlummer bis halb zehn. Im Traum: Blick eine Freitreppe herab auf einen Kiosk, in dem ich den Namen „Kiel“ entzifferte, mich umsah und merkte, dass ich mich wohl eben dort befände, in Kiel, am Hafen, irgendwo in der Bahnhofsgegend. In den Auslagen entdeckte ich dann die Schriftzüge „Lübeck“ und sogar „Lensahn“. Dann huschte ein Mann mit blondem Zopf und Schürze aus dem Kiosk. Er trug große, graue Mülltüten heraus, querte schräg die Gasse und war weg; ich glaubte den Aikidoka J. erkannt zu haben und erschrak: Wie?!, sogar der arbeitslose J. arbeitet?!, und das auch noch in meiner Heimatstadt?! Ich schaute auf die Uhr: 19 Uhr, ich hatte den ganzen Sonntag verpennt. So erwachte ich also um halb zehn morgens.

Am Freitag erfolgte ganztätig die Hochzeit von T. mit seiner N., er ein Bräutling in Stresemann-Hose mit Sammet-Jackett, sie weiß verpuppt, er sehr redeselig, sie sehr still – die Braut und ich wechselten zwei Sätze, zur Begrüßung: „Schön, dass ihr da seid“, zum Abschied: „Schön, dass ihr da wart.“ Dazwischen lehrte man uns irisch tanzen, ein lustiges Hopsen mit reuelosem Schwitzen. Ich hatte mir fest vorgenommen, meine Gastrolle in Anstand und Heiterkeit zu bewältigen, nachdem L. mir am Folgetag des Junggesellenabschieds gesteckt hatte, ich hätte „mich was schämen“ sollen. Was schämen sollen!? Ich dachte bis dahin, ich sei das Sprachrohr für die Geiseln dieser Schnurren- Tortur gewesen und war nun ganz perplex. Per Selbstschutzreflex verbuchte die Bemerkung sofort als Irrtum, dennoch war ich auf der Hochzeit darauf bedacht, keinerlei Angriffsfläche zu bieten, denn ich will von allen geliebt werden, was immer wieder dazu führt, dass ich so sehr geliebt sein will, dass ich Liebesbeweise erwarte und bei Ausbleiben den Liebesbeweismangel auszugleichen suche, indem ich garstige Scherze mache, für die man sich was schämen sollte und die dem Geschädigten erhöhte Liebesbeweise abnötigen – natürlich eine heillose Strategie.

8. Mai 2017 12:01










Christine Kappe

kein fenster, ein bild
ein buntes kleid
keine geliebte
eine vase, eine muse

ich stolpere über kabeltrommeln
im garten winken deine töchter
treffen entscheidungen statt männer
verkaufen gras
echtes grünes wo gibt es das noch
wo kinder bücher zerfleddern
auf der suche nach ihrer geschichte
bleibt die frage nach dem politischen standort des frühlings

kein scheinwerfer
die märzsonne von
schrägvorn

(Antwort auf Christian Lorenz Müllers BITTE BEACHTEN SIE)

8. Mai 2017 20:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (199)

9. Mai 2016, ein Montag

Mitten in der Nacht wimmernd erwacht. Mir hatte geträumt, des nachts in einem großen Haus zu sein, einem nordfriesischen Reetdachhaus vielleicht, jedenfalls mit allerlei Stützbalken versehen, einem einzigen großen Geschoss, einer langgestreckten Diele, von der zur einen Längsseite hin die Zimmer abgingen. Ich befand mich am oberen Ende des Hauses und schaute ins Dunkel und fand es angenehm ruhig, als ich ein Geräusch wahrnahm, das ich recht schnell als elektrischen Rasierapparat zu erkennen glaubte. (Verdammt, erst jetzt fällt mir ein: das muss durch Nachtgeräusche inspiriert worden sein!) Es kam von rechts um die Ecke, also einer kleinen offenen Kammer, recht hölzern gehalten. Ich sah die Konturen einer Gestalt und beschloss, sie zu packen. Doch indem ich sie packte, merkte ich bereits, dass ich es mit einem großen Kerl zu tun hatte, dunkel gekleidet mit schwarzem Pullover, einem großen massigen Gesicht, schwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fielen, und dieser Kerl stieß mich stumm zurück. Da begann die Angst, und ich wich zurück, zurück in die Diele, um Hilfe zu holen und an die Türen zu klopfen. Doch spürbar versagten die Beine und die Stimme: schwer die Beine, dünn die Stimme, als hemme eine Lähmung mich, und also wimmernd – von Frau S. zart geweckt – erwachte ich.

An diesem Mai-Sonntag falteten Frau S. und ich aus vorgestanztem Papier zwei Samurai. Meiner wurde ein Haufen zerknüllten Papiers.

Wir sprachen über die Möglichkeit einer Maskenperformance. Wir haben ja unsere Maskenwesen-Aufnahmen aus Lanzarote und wollen damit etwas anfangen, obwohl wir erklärtermaßen ins Blaue gefilmt haben, ohne Konzept. Jetzt Sophiensäle kontaktieren, Fördermöglichkeiten sondieren.

9. Mai 2017 10:05










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Zug, wenn plötzlich am Horizont Düsseldorf
aufleuchtet, unter einem bilderbuchblauen Himmel, eine
rheinische Epiphanie ohne Ansage, denn gerade noch warst
du vertieft in deine unleserlichen Notizen, hattest keinen
Sinn für das Wetter — und jetzt sitzt du hinter, nein vor der
Scheibe, und der Himmel und die Wolken und die Landschaft
sind keine Unterbrecher deiner Konzentration, sondern deren
Ausstülpung ins Flüchtige.

10. Mai 2017 09:02










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (200)

10. Mai 2016, ein Dienstag

Wieder sehr lange im Bett gelegen, zu lange. Erwacht gegen acht aus einem Traum, in dem ich – wie es die nach altem Rauch schmeckenden Traumbilder wollen – einen Zug verpasst habe. Auf dem Bahnsteig nämlich hatte ich mich verplaudert mit Freunden, bis es plötzlich sehr hektisch wurde und ich mich allein dabei wiederfand, jetzt ganz schnell zum Gleis 9 zu meinem Schnell- bzw. Fernzug zu kommen. Doch war dieses Gleis weit weg, als würden die Züge nicht auf parallel angeordneten Gleisen stehen, sondern als befänden sie sich hintereinander auf Gleisabschnitten ein- und desselben Gleises. Gleichzeitig huschte dabei eine Erinnerung an einen früheren – vielleicht vor Monaten geträumten – Traum vorüber, in dem die Schwierigkeit darin bestand, den richtigen der nebeneinander gestaffelten Bahnsteige zu erwischen …

Genug: Jedenfalls eilte ich den Steig entlang zu Gleis 9 und sah dort, jenseits eines hölzernen Schuppens, einen Zug abfahren. Ich fragte mich noch, ob das wohl meiner gewesen sei, als ich im Holzschuppen schon jenes Freundes gewahr wurde, mit dem ich vormals geplaudert hatte. Es war K., der dort auf dem Boden saß, den Rücken gegen die Bretterwand gelehnt. Der hatte den Zug wohl auch verpasst. Auch ein blonder Schaffner mit roter Schirmmütze stand bei uns und sagte süffisant lächelnd auf Nachfrage, das Ticket berechtige durchaus zum Nehmen des nächsten Zuges in einer halben Stunde (Erleichterung meinerseits), nur sei mit entsprechendem Komfort natürlich erst bei Nachzahlung eines enormen Aufschlags zu rechnen (Bestürzung meinerseits), worauf ich Blicke zu K. sandte, um mich mit ihm dahingehend zu verständigen, dass wir gemeinsam auf entsprechenden Luxus verzichten könnten, worauf wiederum der Schaffner hinzusetzte, dass man aber bei Nutzung des vorliegenden Tickets natürlich in derselben Klasse zu sitzen habe, also daher um einen Aufschlag nicht herumkäme … was mich irritierte, während ich erwachte.

10. Mai 2017 13:57










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (201)

11. Mai 2016, ein Mittwoch

Bis gegen halb drei Uhr nachts verbrachte ich damit, das Japan-Material zu sichten in der Hoffnung, einen roten Faden zu finden, denn meistens handelt es sich um Aufnahmen der immergleichen Figur, des lesenden Mannes, vor wechselnden Hintergründen. Nicht berauschend, aber auch nicht katastrophal, wenn der Rhtythmus von Schärfe und gezielter Unschärfe stimmt. Heute morgen durchforstete ich auf dem Balkon Ovids Metamorphosen nach brauchbaren szenischen Stellen und las Belphegor, dieses irgendwie zähe und dann wieder ungestüme Werk. Sehr bald warf ich mich, wie von einer Kartätsche heißer Trauben getroffen, aufs Bett.

Dort träumte ich, wohl irgendwo in Japan zu sein und mit dem Auto aus dem Stadtkern in einen Vorort zu fahren, von wo wir – wer „wir“ waren, erinnere ich nicht – zu einem Sportzentrum weiterfahren wollten, doch bis dahin war es noch ein gutes Stück Wegs. Plötzlich wallte Sorge auf, wie der Weg zu finden sei, und alsbald erkundigte ich mich eifrig, allzu eifrig, bei jungen Damen in Röcken und erforschte deren Landkarten, womit ich sie geradenach verschreckte und verscheuchte. Damit aber stieg wiederum die Sorge, wie, sofern ich in den Stadtkern zurückkehrte, das Sportzentrum rechtzeitig erreichen bzw. überhaupt finden solle …

… aber gelten diese vormittäglichen Halbschlafträume überhaupt? Wie das wohl wird, wenn der Schlagbaum zwischen Wachen und Schlafen sich hebt, und ich einfahre ins dämmernde Niemandsland, in dem Abschweifung, Gedankenspiel und Traum wohnen, eine Zone, die, je weiter ich vordringe, immer breiter und breiter wird.

11. Mai 2017 08:43










Mirko Bonné

Schulz in Catania

Man besah sich mit spitzem Augenwinkel den Dom.
Frauenquote auch ziemlich unermesslich.
Jede Autostrada führte aufs Meer,
und von da nach Rom.
Im Spiegel der Ätna, eine Katze, er.
Man weinte um die Wette mit Möwen. Unvergesslich.

*

13. Mai 2017 09:51










Thorsten Krämer

Der Marabu

Der Marabu ist von allen Vögeln derjenige, welcher in einer Sauna am wenigsten auffallen würde. Auch eine Fahrkartenkontrolle in einem Intercity würde er problemlos überstehen. Die Hässlichen sind die wahrhaft Unsichtbaren.

In Hamm lebte ein Marabu mehrere Jahre unbemerkt neben einer Tankstelle. Er ernährte sich von den Abfällen der Autofahrer und wärmte sich an der Abluft des angeschlossenen Bistros. Lediglich einige Kinder, die im richtigen Moment aus dem Fenster schauten, während ihre Mütter oder Väter mit der Zapfpistole in der Hand neben dem Wagen standen und den kurzen Moment der Ruhe in ihrem hektischen, durchgeplanten Tagesablauf auskosteten, diese Kinder sahen den Marabu. Doch wurde ihnen natürlich nicht geglaubt, denn einen solchen Vogel hatte hier in Hamm noch niemand sonst gesehen, zumindest nicht in freier Wildbahn. Nur bei einer Gelegenheit erblickten auch die Erwachsenen den Gast aus Afrika: wenn er oben am Himmel vorbeizog, aus der Ferne kaum unterscheidbar von seinem heimischen Verwandten, dem Storch.

Ein ähnlicher und doch ganz anderer Fall ist aus Jena bekannt. Dort richtete sich ein Marabu im Innenhof einer Behörde ein. Die Raucher, die sich in regelmäßigen Abständen dort zusammenfanden, hielten ihn für einen der ihren, und auch die wenigen Bürger, die vor einem wichtigen Termin noch einmal frische Luft schnappen wollten, nahmen keinerlei Anstoß an seiner Anwesenheit, grüßten ihn sogar vorsorglich für den Fall, dass sie ihm vielleicht später in einem der Zimmer gegenübersaßen. Sein beharrliches Schweigen nahm dem Vogel niemand übel, im Gegenteil, es wurde ihm als Lebensweisheit ausgelegt. Erst ein Ornithologe, der Privatinsolvenz anmelden musste, machte diesem angenehmen Leben ein Ende. Als der Marabu verstand, dass dieser Mensch ihn für das sah, was er war, breitete er die Schwingen aus und hob sich, nicht ohne Bedauern, in die Lüfte.

Wahrscheinlich hätte ich dir das besser nicht erzählt. Jetzt frage ich mich, wann es dir aufgefallen wäre, wenn ich nichts gesagt hätte.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

14. Mai 2017 06:18










Konstantin Ames

Verfütterungen

also (wirklich)
Poesien gehören nicht in Häuser.
(Frauen gehören nicht an die Herde.)

was allen Wahrnehmungsberechtigten rasch zu scherben wärde.

wer hier nur siebzigerjährt, hat den Stock
noch viel zu tief im DADA stecken. «Du» (niemals Nietzsche)
musst nicht mehr Mauerstein – ’Tschuldigung – sein.

was unterscheidet Bilderbuch von Wychera?
das Wochenendhäuschen in der ***?
so säh eine Epiphanie dir ausn Augen, es (=) meine
Andh (nur von frisch verwitweten Zungen zu sprechen), langt
in deinen See. Le See. Säe. Was? Löwen. Ist das

Feld zu weit, (bitchst) du halt zu blöd. Gibt es Blödigkeit noch?
Oder Spasmen wie bei Hofmannsthal: «Mode[r] bel[l]t die [dition]
Tradition, Tradition a[a]lt die Mode[ratoren].
» oder gibt’s
Untersch# zwischen dir und deiner Blödheit? Prinzip Öffnung.

Lei# fangen auch schöne Bücher Feuer. Dennoch
Freude über Traditioneues

15. Mai 2017 10:31










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (202)

16. Mai 2016, ein Montag

Heute endete der Aikido-Lehrgang bei Jan Nivelius-Shihan. Solche Lehrgänge rütteln gehörig durch, wenn man sich nicht dagegen abschließt, und das zu tun, wäre natürlich ein Missverständnis. Also lässt man sich durchrütteln. Ich bin regelmäßig hypnotisiert von Nevelius‘ scheinbarer Simplizität und erwache mit Schrecken, sobald ich das, was so überaus simpel schien, selbst anwenden soll. Ich adaptiere oft auf törichte Weise ungelenk und langsam. Besonders offenbarend dann auch der eine Zeitpunkt, bei dem Nevelius mich nach vorn holte, um ihn anzugreifen. Da war ich dann ein vollkommener Tollpatsch.

Die Manga-Serie Gute Nacht, Punpun ist mit Band 13 zu Ende gegangen. Auf dem Buchrücken steht, es sei ein verstörender und aufwühlender Blick in die Welt eines träumenden Vogels, und das trifft es. Das Fragmentarische überfordert, aber Asano schafft auf diese Weise Dunkelstellen, die dann in der Fantasie explodieren können. Oft greift er zu Klischees, spielt aber mit ihnen in klarsichtiger Boshaftigkeit. Er ist großartig, ohne dass ich ihn recht fassen könnte. Außer, dass ich mir vorstelle, dass das konfuse urbane japanische Gehirn in letzter Konsequenz so funktionieren könnte, wie es sich hier darstellt.

Mit Frau S. am Sonnabend in A Bigger Splash, ein italienisches Remake von Derays Swimmingpool, den ich kaum wiedererkannt habe, was zum Teil daran liegen dürfte, dass ich viele Filme so rabiat vergesse. Ungeachtet davon bezaubern Ralph Fiennes in seiner Entfesselung und Tilda Swinton in ihrer stillen provozierenden Souveränität. Dazu immer wieder filmisch kluge Auflösungen mit lange Fahrten, Kreisfahrten. Auch hier entfesselt und souverän, genau wie das Buch, das trotz kriminalistischen Ansatzes bis zum Ende keine Rücksicht darauf zu nehmen scheint, ob etwas „funktioniert“.

Mit Frau S. … ja, mit Frau S. ist es schön. Gestern in ihrer Wohnung, in ihrem Zimmer, auf ihrem Teppich, hörten wir, während Frau S. mir eine Shiatsu-Massage verabreichte, ‚Anthony and the Johnsons‘, und ich bekam anfangs Gewissensbisse, weil dessen Songs eng mit vergangenen Zeiten mit A. verknüpft sind, doch lösten sich diese Verknüpfungen, und während wir diesen Liedern, die Engel zum Weinen brächten, lauschten und mein Kopf so eingebettet lag war, war es mir, als könnte ich einfach in Tränen ausbrechen und Frau S. zurückgeben, was ihre spendable Liebe mir andauernd gibt. Aber ich weinte dann doch nicht, und wir lagen lange still. Das waren so Momente.

16. Mai 2017 08:53










Konstantin Ames

(Verfütterungen)

als o (traditioneu)
Tra tra tra … (Zeile nicht länger als 24h vortragen)
H fehlt nichts zum
Kirchturm
Hls o Hl. Poesie
Heil Heil (an sich)
Außer das Spitzdach (Stift)
Pruegelinstrument pruedes Linstrument
Linsenzertruemmernder Tuermlerlaerm
Aus ganz schwarzen Lettern rote
Demokraten sind ……………………… Leergedichte
ganz aus schwarzen Lettern
ganz aus Tübinger Erzlungen Erzaehlungen
ganz aus/ mach’s neü
Ausganz: Kirchturm = Stift, Bleis
tote (z.B. inaktive) Demokrater (ähnlich Vulkan)
Heil Heil Heil
Pechvogel vertilgt Glückspilze
just so
«So» (irgendein Jandl) ist das mit der _eiligen Poesie
und Venus’ Orangengesichtern/ Oelungen

17. Mai 2017 07:51










Tobias Schoofs

PERVERSER PARK

komm komm gestottert wird
der park die hosen runter auf

den arsch nur munter knaben
haben rote bäckchen kichern
und verfallen auf wer weiß

nicht was für paviansideen aus
ungeahnten löchern lösen sich
berichterstatter die notieren

und sich dann auf allen vieren
im fliederbusch verziehen

18. Mai 2017 15:20










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (203)

19. Mai 2016, ein Donnerstag

Nun ist es ja inzwischen dahin gekommen, dass ich einen täglichen Einkauf, der mich zum Beispiel bei der Videothek, bei Rossmann und bei Edeka vorbei führt, als erfolgreiche Erledigung der Tagespflicht betrachte und wie nach einem vollen Arbeitstag heimkehre. Mein Rentnerdasein nimmt Formen an.

Es sind nur noch zehn Tage bis zum 50., die Wolke graut und schwillt. Wie vor einem ordentlichen Begräbnis wollen zuvor letzte Dinge zweckmäßig geordnet sein: Frühstück mit Jugendfreund H. zwecks Einleitung der Zerwürfnis-Beilegung; Frühstück mit Ex-Freundin Meg zwecks Flickens des rissigen Bandes. Dann gefasst dem Tag entgegen schreiten, der mit dumpfer Glocke den Ausklang einläutet.

Hier in Berlin-Weißensee wirft man einander gern an die Brust. Einjeder erzählt in Anwesenheit Dritter Dinge, die keine zwei Menschen interessieren. Die Kundin erzählt dem Uhrmacher, wieso sie dauernd ihre Handynummer vergisst. Man stellt auf seine Fensterbank eine Tomatenpflanze als Schutz gegen Mücken und Fliegen. So eine Tomatenpflanze, drang heute Nachbarin G. im Treppenhaus in mich, solle ich auch auf meinen Balkon stellen. Ich aber glaubte, mit einer Tomatenpflanze auf dem Balkon rapide altern zu müssen, und als ich jetzt, in diesem Augenblick, das Wort „Tomatenpflanze“ schrieb, vergaß ich beim Tippen das „ma“, und lese erschrocken „Totenpflanze“.

19. Mai 2017 15:08










Markus Stegmann

Segeln

Am schönen Wundertag
am Abhang aller Augen
leblose Nähe lag
weder Nächte taugen

Am schönen Tag der Fliegen
beim Landgang aller Meere
Sommerstimmen lügen
segeln sanft ins Leere

21. Mai 2017 22:26










Markus Stegmann

Verglommen

Adieu ihr Abendhallen
Du falsches Sprachrevier
Die falben Blätter fallen
Wir segeln fort von hier

Träum fort im stillen Grunde
Illusionen halten Wacht
Sterne drehn die Runde
Halten fest die Nacht

Und ob sie all verglommen
Die Thäler und die Höhn
Meer muss doch wiederkommen
Vögel auferstehn

21. Mai 2017 22:51










Markus Stegmann

Stiller

Über meinen Träumen schwanken
Spielen Wolf und Winde
Wiegen sie am Abend milde
Irrlicht Schiff Gedanken

Als wärn wir ohne Schranken
Steht der Himmel offen
Und stiller wird mein Hoffen
Wald und Winde wanken

21. Mai 2017 23:13










Christian Lorenz Müller

RASENSCHIMMER WEIST IHR DEN WEG

Die letzten Hagebuttenlaternen
verlöschen. Die Buchen, bestückt
mit Leuchtdioden, mit Knospen.
Mit aufblendenden Blättern
steht das Buschwerk vor der Terrasse.
Der Kellner deklamiert drei Euro zwanzig
für einen Verlängerten,
eine junge Frau reicht Plastikgeld,
Kabelgerank eines Blauregens,
und streckt ihre koffeinierten Glieder.
Aufstehend: Was für ein herrlicher Tag!
Rasenschimmer weist ihr den Weg
von der Bühne, der gelbe Applaus
eifersüchtiger Narzissen
in dem das Knallen
ihrer Absätze verklingt.

(Zu „kein fenster, ein bild“ von Christine Kappe)

23. Mai 2017 11:12










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (204)

24. Mai 2016, ein Dienstag

Gestern Abend die erste Begegnung mit dem Vater von Frau S. und dessen Mutter in einem Restaurant, also einer Atmosphäre, die meine Panikattacken besonders gut schürt, zumal Frau S. leider zu spät erschien und ich nun zwei völlig Fremden die Aufwartung machte. Ein flugs geschluckter Betablocker ließ mich aber im Licht eines charmanten kulturinteressierten Herren erscheinen, dem die Hochbetagte, vor deren mürrischem Wesen ich gewarnt worden war, beherzt den Unterarm knetete, und mit dem der Vater wohlgesonnen vertraulich wurde. Stoisch überstand ich Phasen familiären Schweizerdeutschs. Man schied erleichtert voneinander. (Und zugleich kribbelt es im Magen, welche Welle da über mich rollt.)

Denn im Traum wurde betrogen. Am Vortag schon träumte mir Betrug. Beteiligt war Ex-Freundin Meg Ich betrog Frau S. mit Meg, und zwar im Vorraum eines Zimmers, der ein wenig verwinkelt war aber Gelegenheit bot, auf dem Teppich zu schmiegen. Trotz schlechten Gewissens geriet ich mit Meg in Kosungen, verwickelte mich mit ihr und sah prompt Frau S. hereinkommen … und der Traum war vorüber. Begeistert, als sei ich der Polizei entwischt, stellte ich fest, dass es nur ein Traum war.

Diese Nacht ein neuer Betrugstraum – diese verfluchten Höllenkreise vor dem Geburtstag! Ich verkaufte einem Redakteur einen großen Artikel für Seite 1, allerdings einen erdachten Artikel, dessen zwei Quellen erfunden waren. Nun kam dieser Redakteur auf den Gedanken, sich – sehr freundlich und zurückhaltend – nach diesen Quellen zu erkundigen, worauf ich sogleich zwei Namen fallen ließ (wobei ich den einen sogar korrigierte) und hoffte aus der Bredouille zu sein. Doch kurze Zeit später, in einem oberen Stockwerk, in einem Spind voller Hakamas, entdeckte ich eine silberne Schwerttasche, in deren Aufschlag eine Grußbotschaft meines Redakteurs stand, gerichtet an einen anderen Redakteur, um sich bei ihm nach jenen „Quellen“ zu erkundigen. Und ich wusste sofort, nun in eine furchtbare Lage zu geraten. Noch sann ich, wie ich aus der Zwickmühle kommen könnte, als ich aufwachte – erleichtert aber wissend, dass der Traum auf jene Sünden des Filmkritikers anspielte, der manche Filme rezensierte, ohne sie gesehen zu haben. Davon habe ich denn auch gleich Frau S. erzählt – mein morgendlicher Bett-Beichtstuhl. Ihr Lust ist staunenswert unbeirrbar.

Jetzt, eben gerade, lässt Frau S., die in der Küche Frühstück macht, dieses Tagebuch schön grüßen. Sie weiß ja auch nicht, was drin steht.

24. Mai 2017 16:00










Konstantin Ames

Schleußig war scheußlich

Einer der am wenigsten mit Geld verklebten Dichter
zu sein, also kein Lyrilker, kein Biedermeier, keiner, der
zwei Monate auf sein Honorar wartet: Chefarzt in

so vielen Fällen. Wir beginnen [da], wo viele nicht mal
atmen wollten. Und ich bin Preisträger. Du zweifach. Minimum.
Jeder Preis macht dich träger. Wir scheißen
einmal am Tag, statt zweimal zu schießen.

Aufs Haus für Poesie, das uns allen den Arsch retten wird.

Es lebe der Neid auf Berlin, Provinz.

24. Mai 2017 21:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (205)

25. Mai 2016, ein Mittwoch

Gestern traf ich Jungendfreund H., mit dem ich mich vor einem Jahr überworfen hatte, als er sich so fatal in die Kitty-Beziehung eingemischt und deren Zerfall zumindest beschleunigt hatte. Er habe, gab er nach einigem Hin und Her drein, damals den Effekt nicht beabsichtigt. (Danke, H., das wäre ja noch schöner!) Sonst ging es gemütlich, man hat einander freundlich geupdatet. Ein Auftakt zu einer neuen H. -Phase, deren Dauer sehr ungewiss ist.

Heute Abend besuchte ich Megs neues Projekt: „City Lights – a continous gathering #4“. Mit Unbehagen eingefahren in die mir stets unbehaglich gebliebene Tanzwelt mit den Meg-Menschen. Eilig einige von ihnen begrüßt und gedrückt, wie man’s so vermeintlich macht. Neben mir zu sitzen kam der drittelwüchsige Sohn der Tänzerin Amy, den ich das letzte Mal vor über einem Jahr gesehen hatte. Wir warteten auf Showbeginn und plauderten über Fußball, als wären seit damals keine zehn Minuten vergangen.
Überall die Tanzleute, auf der Bühne, auf den Rängen, denn die Gäste von Tanz-Performances sind ja zum Gutteil selbst Tänzer. Die Tanzwelt ist ein geschlossenes System, in dem nur die Rollen wechseln: heute Gastgeber, morgen Gast, aber oft sind die Rollen nicht strikt getrennt, und schon gar nicht bei diesem Stück, das die „fortlaufende Versammlung“ zelebriert. Als es losging, platzierten sich also die Schauspieler im Publikum und bombardierten es mit indiskreten Fragen. Man war aufgerufen und genötigt, Handzeichen zu geben, aufzustehen, Farbe zu bekennen (schamrot). Exhibitionismus ist Volkssport unter Tänzern, das ganze Theater ist Bühne für alle. Wer wirklich nur Zuschauer sein will, gerät dann ganz schnell ins Rampenlicht. Ich drückte mich halbherzig, bis Meg den Saal verließ und ihre letzte Frage hineinschleuderte: Ob es hier Leute gebe, deren Ex-Lover im Raum seien. Da hob ich den Arm.
Direkt nach der Vorstellung geflohen. Zuviel Sand, der vom Boden aufgewirbelt wird, mitsamt der ungestillten Bewunderung für diesen kleinen Prinzen, dessen Bewegungen und Erscheinung so fremdartig und weltenfern sind. Es ist da etwas, das mich tief anrührt und in mir ein Weinen auslöst. Kein Weinen, das bis zu den Augen oder der Außenhaut durchdränge, aber doch ein Weinen im Innern. Was für eine Geschichte habe ich da erlebt mit dieser Meg, deren Kunst so seltsam erhaben, frei und radikal ist, jedes Netz unter sich zerreißt, jeden Rückhalt aufgibt und auf einem Niveau operiert, das mir unerreichbar ist.

Ich mache eben andere Sachen. Ich mache gerade meine Steuererklärung.

25. Mai 2017 10:48










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (206)

26. Mai 2016, ein Donnerstag

Es ist 4:48 Uhr, soeben bin ich erwacht und schreibe schnell, bevor alles weg ist. Eben noch, im Traum, befand ich mich in einem Hafengebiet in einer großen Feiergesellschaft und habe, wodurch auch immer, auf einem anderen Kontinent eine Langstreckenrakete gezündet, die nunmehr auf dem Weg zu mir, zu meinem Kontinent, war, um uns alle zu vernichten.

Es war im gleichen Traumgeschehen, dass ich am frühen Morgen auf urbaner Straße ging und zwei Frauen sah, die kichernd nebeneinander flanierten und sich das wunde Geschlecht hielten. Auch erzählten sie sich von gerade soeben erlebten sexuellen Abenteuern. Die eine hatte, glaubte ich, einen Dreier gehabt, die andere sprach kichernd ausschließlich von „Eduard“ (niemand dieses Namens ist mir bekannt).

Wahrscheinlich danach begann die Traumsequenz mit der Bombe, deren Eintreffen ich zunehmend bange entgegensah. Ich hielt es kaum aus. Ich hätte gern geschlafen in diesem Traum, fragte mich aber unablässig, ob diese Rakete nun stur das Ziel ansteuere, dessen Koordinaten ihm im Augenblick der Zündung angegeben worden seien, oder ob sie intelligent genug sei, dem beweglichen Ziel – also mir – zu folgen und mithin meine Flucht sinnlos sei. Irgendwann habe ich mich von einer nicht erinnerlichen Person gelöst, mit dem Ziel – die Intelligenz der Rakete vorausgesetzt – diese Person zu retten, womöglich aber auch – die Nicht-Intelligenz der Rakete einrechnend – diese Person der Rakete auszuliefern und mich zu retten … mulmig wurde es mir in beiden Fällen, und ich stak im Dilemma, ohne lange abwägen zu können, denn das Eintreffen der Rakete stand nun unmittelbar bevor, und so lief ich halbentschieden, um nur irgendeine Irritation in diese verfahrene Situation zu bringen, zielstrebig in die Hafengegend (die mich von ungefähr an Kiel erinnert). Dort sah ich über dem Meer ein sehr tief fliegendes Flugzeug stürzen. Ich begriff es als Vorboten der Rakete. Dann … gleichsam im Aufwachen … folgte ein Happy End, in dem die Entschärfung der Rakete gemeldet wurde, obwohl mir die genauen Umstände und Erklärung der Entschärfung nicht erinnerlich ist.

Genau erinnerlich aber ist mir der Aufwachgedanke, dass dies alles ein Reflex sei auf meinen gestrigen Besuch in Megs Tanz-Performance, in ihrem Revier. Und auch fiel mir ein bestimmter Zeitpunkt im Verlauf des Stücks ein, als alle Gäste den Ort wechseln und vom Rang ins Parkett gehen sollten. Da wachte an einer Saaltür, durch die ich zu gehen hatte, die mir bekannte Aktrice Amy, die mir menetekelnd-schnurrend ein „Take care“ zuraunte, das ich in jenem Moment gar nicht habe einordnen können bzw. eher dahin verstand, auf ihren Sohn Remo-Joe, der ja zufällig neben mir zu sitzen kam, aufzupassen. Nun aber, im Erwachen, schien mir sehr einleuchtend, dass sie mich warnte vor den Gefahren des Gastes im Revier des Wolfs.

26. Mai 2017 22:54










Thorsten Krämer

Das Okapi

Über dem Okapi strahlt die Okapisonne. Unter dem Okapi liegt der Okapischatten. Das Okapi mag den Klang seines Namens: Okapi Okapi Okapi. Doch dann verhallt der Klang, und es ist wieder still. In der Stille wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Ein Blinzeln reicht, und es ist nicht mehr zu sehen.

Okapi, wo bist du? Komm heraus und zeig dich, Okapi!
Solche Rufe nützen gar nichts. Das Okapi ist nicht scheu, nur existenziell instabil. Es blendet ein und wieder aus und weiß selbst nicht so genau, was als nächstes passiert. Jetzt steht es hier an einem Wasserfall. Das Wasser rauscht so laut, dass man fast nichts mehr erkennen kann. Im Getöse wird das Okapi unsicher; es weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch da ist. Hinter dem Vorhang aus Wasser verschwindet es gänzlich.

Nein, nicht gänzlich. Hier steht es jetzt unter einem Brotnussbaum. Es schnappt nach den süßen Früchten, die schon leicht vergoren sind. Jetzt hätte das Okapi gerne den langen Hals der Giraffe, seiner nächsten Verwandten. Aber man kann sich seinen Hals nicht aussuchen, nicht einmal das Okapi kann das. Mit seinen gestreiften Beinen ist das Okapi dagegen sehr zufrieden. Wenn es im richtigen Tempo trabt, bilden diese Streifen ein sich rhythmisch bewegendes Interferenzmuster, das fast schon eine hypnotische Wirkung hat.
Dann kommt Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz auf Weiß auf Schwarz …

Und wo ist das Okapi jetzt?

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

27. Mai 2017 07:27










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (207)

28. Mai 2016, ein Sonnabend

Mir träumte, dass meine Füße furchtbar gehäutet aussahen, übersät von rosa Flecken, wo die Haut seidenpapierdünn war. Es war mir natürlich peinlich, mit diesen Füßen beim Aikido auf die Matte zu gehen, zumal die Partnerübung darin bestand, einander mit gestreckten Beinen gegenüber zu sitzen, Sohle an Sohle, und den Rumpf nach vorn zu beugen, möglichst bis über die Füße des Partners hinaus, und ausgerechnet mein Partner hatte sich bei dieser Dehnübung schon vorher ausgezeichnet. Nun also mit ihm! Doch da sah ich, dass auch seine Füße, ja, seine Beine, über und über befleckt und geradenach leprös wirkten …

Bisweilen lese ich im Belphegor, diesem völlig ungebärdigen Werk des Goethe-Zeitgenossen Wezel, der den vielleicht wütendsten Abenteuerroman jener Zeit schrieb. Eine saure Prosa.

28. Mai 2017 08:03










Tobias Schoofs

KRAFTWERK

ein gedicht ist eine maschine
klein oder groß die aus wörtern
gemacht ist auch deine knochen
haben so eine kleine maschine

leben ist eine maschine aus licht
ein wort ist eine maschine die
aus morphemen besteht ein film
ist aus schnitten und montagen

aus lichtempfindlichem material
ein haus ist eine wohnmaschine
atomkraftwerk ist ein wort aus
maschinen und energie musik

besteht aus nullen und einsen
birnen sind äpfel die leuchten
liebe ist eine als lüster getarnte
maschine die flüstert morpheme

sind aus klängen und reimen und
natur besteht aus maschinen die
selbst aus maschinen bestehen

28. Mai 2017 12:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (208)

29. Mai 2016, ein Sonntag

Vor dem Fest …

Der seltsame Tag. Im Kopf schwirren Fetzen möglicher Grußworte (die Nebensächlichkeit der Dinge, die Wichtigkeit der Träume), verweht von Unlust, dem feirigen Abend Gewicht zuzumuten. Was ist anders als vor einem Jahr? Frau S., diese feine, feinsinnige Person, die ein sehr großes Liebeswesen ist. Mit Frau S. buk ich einen Nutella-Kuchen. Er misslang mal wieder gründlich. Er kommt als schwarzer Sarg auf den Tisch. Mein Ofen eignet sich besser für japanische Keramik.

Nach dem Fest …

Party im Standbad Weissensee. Die gestellte Musikanlage lieferte keine Musik, die Speisekarte versprach fast nur Speisen, die aus waren. Nach drei Bestellungen schrumpfte sie auf zwei Posten, einer davon war Salzgebäck. So ein Desaster sorgt für Stimmung. Als die Musik irgendwann doch noch lief, kam auch schon die Polizei gelaufen, aber ich hatte Sekt genug intus, die Mahnungen sehr verständig entgegenzunehmen und nach verbindlichem Abschied in den Wind zu schlagen. Im Rausch mit Feuer gezündelt und Sekt verschossen – ach, diese hochwichtigen Finales immer wieder. Dem Schulfreund, dem ich seit 30 Jahren schreibe und der nie zurückschriebt – auch der kam. Auch mein großer M. Auch die Schwester, der die Tränen rannen. Seliges Sprechen und Bekennen im Nachtnebel des Alkohols. Damals. Ja, damals. Danke für damals. Eine Bestattung zu Lebzeiten. Aber schöner als danach.

29. Mai 2017 08:34










Mirko Bonné

Bilanz nach fünfzig Sommern

Der Pott, der einläuft und nur kurz
den Horizont zum Schaukeln brachte,
er spült das Geröll aus Heraklits Fluss,
toten Plunder ans Ufer: eine Matratze,
auf der Zwei schliefen und am Morgen
sich liebten, um weiterzuschlafen; die
Knochen einer Möwe, so leicht, dass
der Wind sie wegträgt. Putain, sagt
der Wind, putain, vachement! Wir
werden alles wiedersehen, denn
nichts geht je wirklich verloren, ja
könnte überhaupt je verlorengehen.
Und flüchten wir zu Schattenkabinetten,
in die Pulsflaute, zur allerletzten Adresse,
die sie nicht mehr ändern, nur löschen, es
bleibt ein Versuch, dieses Löschen, das
Tilgen und Verschwinden, denn alles
bleibt, auch das Ausradieren; aber
genauso bleibt stets das Bleiben.

*

Schlagzeile der GERALD TRIBUNE vom 29. Mai 2017:

The Most Beautiful Hombre With the Longest Nose on Earth and the Hugest Heart – Today Is His Birthday! Let’s Celebrate the End of Our Agony and Let’s Dance Thru Space Up to Saturn.

*

30. Mai 2017 10:27










Christian Lorenz Müller

REGENTONNENVARIATIONEN 16 BIS 26 (Fake Poetry in Haiku)

Wie ein Bullauge
vor dem die Wolken fliegen,
die weißere Gischt.

Die Linse eines
Fernrohrs. Und schon ein Wasser-
läufer kratzt sie blind.

Der flüssige Kern
von einer Probebohrung
im Regenhimmel.

Der Rand der Tonne:
Einem Finger aus Wasser
aufgesteckter Ring.

Kleiner Handspiegel
für den Himmel: Gerade
zieht er Wolken nach.

Die Kinder kochen
Hexesuppe. Im Kessel
Wasser, Wolken, Gras.

An Sommertagen:
Plätzchenform, die ein Stück Blau
aus dem Himmel sticht.

Sommers das Fallrohr:
Ausgedörrte Kehle, die
nach dem Becher giert.

Ihr Überschäumen
bei Gewitter, und ringsum
der berauschte Garten.

Nach dem ersten Frost
kippst du die Tonne, du wirfst
den Diskus aus Eis.

Gesäubert steht sie
als leeres Glas. Das Frühjahr
erst schenkt wieder ein.

31. Mai 2017 15:51